11.10.2002

Stationen der Privatisierung

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Stationen der Privatisierung

DIE Deregulierung der französischen Post begann im Jahr 1987. Sie ging von zwei zusammenhängenden Postulaten aus: immer mehr Europa, immer mehr Marktöffnung. Dennoch konnte die traditionsreiche PTT (Poste et Télécommunications) nur in kleinen Schritten und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zerschlagen werden. Denn die Bevölkerung hing und hängt noch immer an den öffentlichen Versorgungseinrichtungen, als deren Flaggschiff das alte Kommunikationsunternehmen gelten kann. Die wichtigsten Stationen der neueren Entwicklung waren:

Februar–März 1987: Per Regierungserlass (Dekret mit dem Titel „Baustellen der Freiheit“) öffnet Chiracs Postminister Gérard Longuet die Bereiche Kabelfernsehen, öffentliche Telefonzellen, Datenfernverarbeitung und Funktelefon für den Markt. Nach anfänglichen Versuchen, den rechtlichen Status der PTT zu ändern, zieht der Minister sein Projekt angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen von 1988 zurück.

April 1989: Der Sozialist und ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT Hubert Prévot unterbreitet dem Postminister der Regierung Rocard ein erstes Gutachten über „den Stellenwert des öffentlichen Post- und Telekommunikationsdiensts“ in Frankreich. Darin ist die Rede von „einem öffentlichen Dienst mit industriellen und kommerziellen Aufgaben, der die Gesetze des Markts nicht ignorieren kann“. Postminister Quilès kommentiert den Prévot-Bericht mit dem Satz: „Um einen Frachter wie die PTT zu lenken, braucht man mehr als einen Rückspiegel oder ein Steuerruder.“ Zwei Monate später verkündet er: „Der Status quo ist unhaltbar, da er unweigerlich in den Niedergang und zur Aufgabe des öffentlichen Dienstes führt.“

August 1989: Die Endfassung des Prévot-Berichts befürwortet die Schaffung „zweier öffentlich-rechtlicher Institutionen“ – Post und France Télécom (FT) – und ermöglicht damit die Änderung des rechtlichen Status der 435 000 Beschäftigten. Erziehungsminister Lionel Jospin äußert sich ablehnend zu den Vorschlägen des Prévot-Berichts. Gérard Longuet (UDF) bewertet den Bericht als „bemerkenswerte Arbeit“, die „in die richtige Richtung weist“.

September 1989: Premierminister Michel Rocard (PS) antwortet den Kritikern des Prévot-Berichts: „Es gibt nichts Bedrohlicheres als den unseligen Status quo […]. Wenn wir nichts unternehmen, wird es bei der Post in zehn Jahren genauso aussehen wie in der Stahlindustrie.“ (Le Monde vom 4. September)

Mai 1990: Die Nationalversammlung beschließt mit 284 Jastimmen (darunter die 272 PS-Abgeordneten) bei 45 Neinstimmen (darunter die 26 KP-Abgeordneten) die PTT-Reform. Am 1. Januar 1991 verlieren Post und FT ihren Status als staatliche Behörden und werden zu öffentlich-rechtlichen Einrichtungen.

Mai 1992: Die EU-Kommission plädiert in einem Grünbuch für die Modernisierung der Post durch Einführung von Wettbewerbselementen zwischen öffentlichem Dienst und privaten Unternehmen.

Juni 1993: Die EU-Kommission beschließt die vollständige Öffnung des Telekommunikationssektors für den Wettbewerb zum 1. Januar 1998.

Mai 1995: Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei Lionel Jospin unterzeichnet eine Petition der Gewerkschaft SUD gegen die Privatisierung von France Télécom.

Juni 1996: Das französische Parlament verabschiedet eine Gesetzesvorlage von François Fillon (Telekommunikationsminister der Regierung Juppé), die das Marktmonopol von France Télécom abschafft. Die sozialistische Fraktion reagiert mit einem Misstrauensantrag. Sechs Monate später wird France Télécom zur Aktiengesellschaft.

Mai 1997: Das Wahlprogramm der Sozialistischen Partei verurteilt die „beschleunigten Privatisierungen“ und die „Abwicklung der öffentlichen Versorgungseinrichtungen“ als eine „liberale Säuberungsaktion“. Dominique Strauss-Kahn präzisiert: „Die Sozialisten wünschen, dass France Télécom wegen seines öffentlichen Auftrags zu 100 Prozent in Staatshänden bleibt.“

Oktober 1997: Die Regierung Jospin bringt France Télécom an die Börse.

Dezember 1997: EU-Kommission und Europäisches Parlament verabschieden eine neue Richtlinie. Danach soll für alle Postsendungen, die mehr als 350 Gramm wiegen oder mehr als das Fünffache des Grundportos kosten, der freie Wettbewerb gelten.

1. Januar 1998: Öffnung des europäischen Telekommunikationsmarkts für den freien Wettbewerb.

Juni 1999: EU-Wettbewerbskommissar Karel Van Miert erklärt: „Die Liberalisierung der Telekom-Märkte war eine Priorität. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung waren Monopole nicht mehr zeitgemäß. Die Dienstleistungen waren vielfach von mäßiger Qualität, die Gebühren viel zu hoch. Und was war die Folge? Die Gründung von mehreren hundert Unternehmen, in Frankreich wie in allen anderen Ländern der Union! Wenn wir uns anstrengen, werden unter dem Strich Arbeitsplätze entstehen.“ (L‘Expansion, 10. Juni)

Dezember 2000: Martin Vial, bisheriger Generaldirektor der Post, avanciert zum Präsidenten von Le Groupe La Poste. Als langjähriger Mitarbeiter des damaligen Postministers Paul Quilès war Vial einer der fünf Architekten der PTT-Reform.

April 2001: Martin Vial ernennt Daniel Caille zum Generaldirektor der Post-Gruppe. Caille war zuvor einer der stellvertretenden Generaldirektoren von Vivendi Universal.

Oktober 2001: Die EU-Minister, in deren Zuständigkeit das Post- und Telekommunikationswesen liegt, einigen sich darauf, die Öffnung der Postdienste für den Wettbewerb fortzuführen.

September 2002: Der Vorstandsvorsitzende von France Télécom Michel Bon verkündet für das erste Halbjahr 2002 einen Rekordverlust von 12,2 Milliarden Euro. Hinzu kommen Verluste in Höhe von 57,5 Milliarden Euro infolge ruinöser Unternehmenskäufe, gegen die der Staat, der immerhin Mehrheitsaktionär ist, nichts unternahm, weil er befürchtete, des Interventionismus bezichtigt zu werden. Der Kurs der Télécom-Aktien fällt auf 10 Euro (der Einführungspreis im Oktober 1997 lag bei 27,75 Euro). Bon tritt zurück. Vial wird ebenfalls abgelöst.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002