13.12.2002

Von Wien über Belgrad nach Brüssel

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Von Wien über Belgrad nach Brüssel

AB 2004 wird ein Land der EU angehören, das viele Europäer nicht einmal geografisch verorten können. Obwohl Slowenien ein Anrainerstaat der Union ist, haben viele von dem Land keinen Begriff, weil es stets Teil eines multinationalen Staatswesens war. Erst vor 11 Jahren wurde es selbstständig, weshalb die politische Klasse in Ljubljana reichlich Erfahrung im Umgang mit einer Zentralmacht hat. In ihren Konflikten mit Belgrad gewitzt, wird sie auch vor der Brüsseler Bürokratie nicht kuschen. Eine artikulierte EU-Skepsis gibt es in Slowenien kaum, aber man demonstriert auch keine EU-Euphorie. Für die relativ reichen Slowenen ist die Aufnahme in den Klub im Grunde eine schiere Selbstverständlichkeit. Von NORBERT MAPPES-NIEDIEK *

Auf den Schlachtfeldern sah es finster aus. Die Böhmen desertierten schon kompanieweise, und der junge Kaiser musste fürchten, dass ihm das schöne Reich auseinander fallen würde. Es war höchste Zeit, die verbliebenen Bundesgenossen zu sammeln, und so bestellte Kaiser Karl sich eines Tages in jenem schrecklichen September 1918 Anton Korosec in die Hofburg zu Wien, einen kaisertreuen Priester, der ihm als Vertreter der Slowenischen Volkspartei bekannt war. Der Kaiser übermittelte Hochwürden Korosec die frohe Botschaft, aus Österreich solle nun endlich der von den Slowenen schon so lange geforderte Bundesstaat werden. „Majestät“, sagte der fromme Herr mit vor Ehrfurcht zitternder Stimme: „Es ist zu spät.“

Die Worte, die Anton Korosec am Ende des Ersten Weltkriegs dem Kaiser entgegnete, könnten als Motto an allen Weggabelungen der slowenischen Geschichte stehen. Immer hatte sich in dem kleinen Volk etwas getan, was in den fernen Zentren keiner richtig mitbekommen hatte. „Es ist zu spät“, eröffnete Sloweniens KP-Chef Milan Kučan in Belgrad seinem serbischen Kollegen Borisav Jović vor dem endgültigen Auseinanderfallen Jugoslawiens. Eine ähnliche Antwort hatten schon 1848 die deutschen Liberalen erhalten, als sie ihre Laibacher Genossen in die Frankfurter Paulskirche einluden, damit sie dort an einer gesamtdeutschen Verfassung mitwirkten. Die Slowenen wollten erst keine Deutschen, dann keine Österreicher, dann keine Jugoslawen mehr sein. Stets reichte ihre Macht gerade aus, sich dem Werben der größeren Mächte zu entziehen.

Mit Slowenien kommt ein weithin unbekanntes Land in die EU, das gern mit der Slowakei oder der kroatischen Landschaft Slawonien verwechselt wird. Routiniert erklären seine Vertreter, ihr Land liege auf der sonnigen Seite der Alpen. In Brüssel kennt und lobt man seine Wirtschaftsdaten: „Slovenia Incorporated“, wie das Land mit seinen hochprofessionellen Unterhändlern bei der EU-Kommission genannt wird, hat Portugal und Griechenland im Pro-Kopf-Einkommen längst überholt und müsste eigentlich vom ersten Tag seiner Mitgliedschaft an zu den Nettozahlern gehören. Das allerdings würde sich auf die Stimmung der Slowenen verheerend auswirken, und da sie sich, wie wir schon wissen, gern zieren und manchmal ganz entziehen, fand man ein Übergangsarrangement. Vor dem Beitritt 2004 steht noch eine Volksabstimmung, und nirgends ist die Skepsis gegen Brüssel so groß wie in Slowenien. Die Skepsis ist selbst typisch europäisch. Es geht um die Agrarsubventionen – obwohl die Landwirtschaft nur 4 Prozent des Sozialprodukts ausmacht –, um die Quellensteuer, die Geschwindigkeit von Banküberweisungen. Zmago Jelinčič, ein wenig talentierter Rechtspopulist, sammelt seit Jahren Ressentiments aller Art: gegen Bürokratie, Großmächte, schnorrende Flüchtlinge aus Bosnien und sonstige „Balkanesen“. Slowenien macht Anstalten, im Klub der Kleinkrämer ein ebenbürtiges Mitglied zu werden.

Dass es zu einem Nein kommen könnte, glaubt in Slowenien allerdings niemand. „Wo sonst sollen wir hin?“, fragt sich selbst der Ökonom Jože Mencinger, der prominenteste EU-Skeptiker des Landes. Um sich selbst zum Kosmos zu werden, ist Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern zu klein. Dafür verfügt das Land über eine reiche Erfahrung, wenn es darum geht, eine Zentralgewalt auszutricksen. Die zuständigen Referenten bei der EU-Kommission in Brüssel können davon schon ein Lied singen. Vor allem wenn es um technische und Umweltstandards ging, versteckten die Beamten in Ljubljana in ihren Gesetzen und Verordnungen immer wieder gern protektionistische Absichten. Bei der Privatisierung der 1 500 Betriebe aus „gesellschaftlichem Eigentum“ hatten Ausländer praktisch keine Chance: Wer kaufen wollte, musste gleich 100 Prozent erwerben und kam nur zum Zuge, wenn der Arbeiterrat zustimmte. Erst als die Filetstücke in slowenischen Händen waren, wurde das Gesetz geändert. Bei Vorhaltungen bekamen die Brüsseler Beamten zu hören, man habe kaum die Verwaltungskapazität anderer Beitrittsländer; schließlich hätten sie 1991 im Finanzministerium mit 20 Mann angefangen. Mencinger leugnet nicht, dass das bloß eine Ausrede ist. Er hält den größten Teil des Acquis communautaire einfach für „baren Unsinn“.

Dass man das Land, wo die Liberalen „links“ und die Sozialdemokraten „rechts“ stehen, als Ausländer nicht begreift, hat einen triftigen Grund: Es ist zu klein. Die gesamte politische Klasse von heute hat gemeinsam in den Oberseminaren derselben Jura-, Volkswirtschafts- und Politologie-Ordinarien an der Uni Ljubljana gesessen, und jeder weiß vom anderen, was der vor zwanzig Jahren für einen Unsinn geredet hat. Wenn man den designierten Premierminister Anton Rop kennen lernen will, so kann man sich in gepflegtem Englisch seine Visionen vortragen lassen. Will man aber über Anton Rops Regierung eine Prognose wagen, sollte man wissen, dass er mit dem Fußball-Nationaltrainer Srečko Katanec im Kindergarten war und mit dem einflussreichsten Ökonomen des Landes, Vlado Dimovski, Seminararbeiten geschrieben hat – und wer in den Achtzigerjahren bei der Planungsbehörde in Ljubljana seine Wohngenossen waren: nämlich der heutige Chefunterhändler in Brüssel, Janez Potočnik, und der spätere Premier Lojze Peterle. Wer das alles nicht weiß, kann einpacken. Einmal, im Jahr 2000, hat mit Andrej Bajuk ein Emigrant die Regierung geführt. Nach drei Monaten war er am Ende.

Dass sich alle kennen, bedeutet nicht, dass sie sich auch vertrügen. Im Gegenteil: In der politischen Klasse des Landes herrschen bittere Feindschaften. Die innerparteilichen haben ihre Ursache meist in persönlichen Verletzungen – so hat in den Neunzigerjahren ein einziger Politiker der Volkspartei, Marjan Podobnik, mit ein paar gelungenen Intrigen das Klima im ganzen bürgerlichen Lager nachhaltig vergiftet. Die großen Feindschaften aber haben eine historisch ernste Ursache: Im Zweiten Weltkrieg haben Slowenen auf Slowenen geschossen, und ein Bürgerkrieg in einem so kleinen Volk wirkt noch viel schlimmer nach als in einem großen.

Bis heute prägen unversöhnlich das linke und das rechte Lager die Szene. Das „linke“ besteht, merkwürdig genug, aus den Liberaldemokraten, die auch Mitglied der gar nicht linken Liberalen Internationalen sind, einer „Vereinigten Liste der Sozialdemokraten“ und der Rentnerpartei Desus. Alle drei Parteien sind aus verschiedenen Strömungen des „Bundes der Kommunisten“ hervorgegangen, pflegen die gleiche Sicht der Geschichte und haben mit radikalliberalen Konzepten nach US-Muster nichts im Sinn. Das rechte Lager setzt sich aus der schon erwähnten christdemokratischen Partei „Neues Slowenien“ und, als stärkster Kraft, den Sozialdemokraten unter Janez Jansa zusammen. Koaliert wird seit langem munter über die Lagergrenzen hinweg, sagt aber jemand ein historisches Reizwort, sammeln sich blitzschnell alle wieder bei ihren jeweiligen Fähnlein.

Die Lager sind im 19. Jahrhundert entstanden. In der politischen Landschaft Österreich-Ungarns gehörten die Slowenen klar nach rechts – Friedrich Engels zog damals derb über den Nationalismus der „kleinen Völker“ her. Der Fortschritt war deutsch. Deutsch sprach man auch in den Städten Laibach und Marburg, die erst damals ihre slowenischen Namen Ljubljana und Maribor bekamen. Slowenisch dagegen redeten die Bauern und die Landpfarrer, die ihnen aufs Maul zu schauen hatten. Dem Thron in Wien kam der erwachende slowenische Nationalismus entgegen, als Gegengewicht gegen die deutschen Liberalen. Die treuen Slowenen dagegen fürchteten Gott, den Kaiser und die Eisenbahn von Graz nach Triest, die das moderne Denken in ihr heiliges Land zu bringen drohte. Einen Nationalstaat, wie die Tschechen, wünschten sie sich nicht.

Das liberale, später linke Lager entstand im Laibach der 1840er-Jahre, typisch slowenisch, mit dem Bruch einer Freundschaft. Der junge Graf Auersperg, der sich Anastasius Grün nannte, und der etwas ältere France Prešeren übten sich gemeinsam an Lyrik in der originellen Volkssprache ihrer Heimat. In der 48er-Revolution musste Grün entsetzt feststellen, dass sein Freund Franz sich lieber mit den volkstümelnden Pfaffen gemein machte als mit den deutschen Liberalen. Indem Prešeren, heute als größter Dichter des Landes verehrt, die nationale Zugehörigkeit über die politische stellte, war aus einer konservativen Bewegung eine Nation geworden.

Eine von Anfang an bedrohte Nation: Im späten 19. Jahrhundert wurde den Deutsch-Österreichern klar, dass sich das Reich gegen den Nationalismus der slawischen Völker nicht mehr lange würde halten lassen; da wollte man wenigstens für das eigene Volk einen möglichst großen Batzen herausschneiden. Eine „Brücke“ aus „deutschen“ Gebieten sollte Graz und Triest verbinden. Ein „Verein Südmark“ wurde gegründet, mit dem Ziel, slowenische Gebiete zu germanisieren – es gibt ihn übrigens immer noch, unter derselben Grazer Adresse wie damals. Man fing auch tatsächlich damit an und kaufte verlassene Höfe zwischen Graz und Maribor auf, um sie an Bauern aus dem Deutschen Reich weiterzugeben. Zwischen 1906 und 1914 brachten die „Umvolker“ es auf 64 Siedlerfamilien mit 368 Personen. Auch der steirische Dichter Peter Rosegger unterstützte das aberwitzige Vorhaben.

Die Urangst hat sich bis heute gehalten. Höchst alarmiert reagierte das ganze Land, als vor ein paar Jahren die Wiener Regierung einen Grazer Professor schickte, der nachweisen sollte, dass es in Slowenien eine „deutschsprachige Minderheit“ gebe. Der Mann fand tatsächlich ein paar alte Leute, die in ihrer Kindheit zu Hause deutsch gesprochen hatten. Den Gedanken, dass es sich bei ihnen um eine Volksgruppe handelte, konnten die Slowenen nicht akzeptieren: Wenn einer hier ein Deutscher ist, sind wir es am Ende alle, fürchtete man. Der jahrzehntelange „Volkstumsstreit“ um Slowenien wurde in Wirklichkeit nicht zwischen ethnischen, sondern zwischen politischen Gruppen geführt. Wer sich als „Slowene“ bekannte, sprach meist so gut deutsch wie sein „deutscher“ Nachbar, der sich mit seinen Großeltern nur auf Slowenisch unterhielt. Nicht „Nemci“ nannten die nationalen Slowenen die Deutschen im eigenen Land, sondern „nemcuri“ – Leute, die nur so tun als ob. Weil es ein Familienstreit war, fiel die Abrechnung 1945 besonders brutal aus. Nirgends in Jugoslawien wurden so viele „Deutsche“ ermordet wie in Slowenien.

Solange Slowenien zu Österreich gehörte, blieb die katholische Rechte dominant. Als die Monarchie zerbrach, entschieden sich zuerst die Liberalen und dann erst die Klerikalen für den Anschluss an den neuen Staat Jugoslawien. Für sie gab den Ausschlag, dass in Belgrad immerhin ein frommer König regierte, während in Wien die roten Horden tobten. Umgedreht haben die politischen Verhältnisse erst die Nazis, die die Slowenen mehrheitlich nicht für „slawische Untermenschen“, sondern für „eindeutschungsfähige“ Germanen hielten und ihnen unter der Besatzung ein vergiftetes Angebot machten: Wer „deutsch“ wurde oder „Windisch“, also Slowenisch sprach und deutsch fühlte, durfte bleiben, wer nicht wollte, dem drohte die Vertreibung. Die katholische Kirche arrangierte sich mit den deutschen und italienischen Besatzern, die Linke nicht. Am Ende kämpften „Domobranen“, die kirchentreuen Truppen der deutschfreundlichen Marionettenregierung, gegen die Tito-Partisanen, die in Slowenien mehr Zulauf hatten als in jedem anderen Teil Jugoslawiens. Seither gilt die Kirche in den Augen nationaler Slowenen als kompromittiert. Bis heute vergisst kein Journalist zu erwähnen, ob ein Porträtierter aus einer Partisanen- oder einer Domobranenfamilie kommt.

Für die praktische Politik spielt die Unterscheidung keine Rolle. Sind aber Reflexe und Ressentiments gefragt, lässt sie sich trefflich nutzen. Der Christdemokrat Peterle erinnert sich heute noch mit Bitterkeit, wie die Linke ihn einmal abmeierte. Die Rechtsregierung in Italien veranstaltete damals ein großes Lamento über die Grundstücke, die Italiener bei ihrer Aussiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg in Slowenien hatten aufgeben müssen. Peterle taktierte geschickt mit Rom und erreichte schließlich einen günstigen Kompromiss. Als er aber mit seinem Ergebnis ins Parlament nach Ljubljana ging, brach der heilige Zorn der Linken über ihm zusammen: Verrat sei das, Ausverkauf nationaler Interessen! Peterle musste gehen. Sein Nachfolger, ein Linker, verhandelte nach und stieg deutlich schlechter aus. Diesmal blieb das Parlament ruhig. Peterle war Christdemokrat. Warf ihm jemand nationale Unzuverlässigkeit vor, wurde das in Slowenien geglaubt. Aber auch die Rechte pflegt ihre Komplexe: Nie haben es die Antikommunisten verwunden, dass es die Kommunisten waren, die das Land in die Unabhängigkeit führten. Noch immer erfüllt es sie mit fassungslosem Staunen, dass die Slowenen in ihrer Mehrheit gar nicht das Gefühl haben, sie hätten 1991 von ihren Kommunisten „befreit“ werden müssen – schon in den Achtzigern hatten pragmatische Leute wie Kučan die Dissidenten in der Republik nach Kräften gegen Belgrad in Schutz genommen und die berüchtigten nationalen „Meetings“ des Slobodan Milošević in Ljubljana verhindert.

Reist man durch das Land, ahnt man von alledem nichts. Von Graz nach Triest braucht ein gutes Auto vier Stunden. Müsste man nicht in Spielfeld und Fermetti den Pass vorzeigen, würde man nicht merken, dass der Weg durch ein Drittland verläuft. Bis Maribor grüßen, meistens wieder fein herausgeputzt, die bunt getünchten steirischen Bauernhäuser mit ihren Spoletten um die Fenster. Danach wird es alpin: fromme Bildstöcke und dunkle Heustadl vor der gewaltigen Kulisse der Karawanken. Ljubljana wird, wie jede mitteleuropäische Großstadt, über die Autobahn umfahren. Den Rand der City markieren ein paar repräsentative Bürotürme, man könnte meinen, durch Ostbelgien oder Oberhessen zu fahren. Bei Postojna beginnt dann plötzlich der Süden: Die Kirchtürme tragen keine Zwiebelhauben mehr, sondern stehen vornehm ein paar Meter vom Schiff entfernt, wie in Italien.

Wer in Ljubljana losfährt und dann etwa durch das Portal eines der prächtigen Jugendstilhäuser in die Büroräume einer Werbeagentur tritt, will noch viel weniger glauben, dass hier Geschichte noch eine Rolle spielt. Technik, Know-how und Geschäftsmentalität sind auf dem neuesten Stand, man spricht ein weit besseres Englisch als in Graz oder Klagenfurt oder gar in Triest oder Udine. Slowenien hat von Jugoslawien die Markenproduktion geerbt. Das war nach 1991 eine schwere Bürde, weil jugoslawische Marken auf den neuen Märkten im Westen weit schlechter abzusetzen waren als etwa Rohstoffe oder Halbfertigprodukte. Das Wirtschaftswunder, das folgte, begründet eine neue Art von Nationalstolz. Wenn sie nun bald entlegene Provinz eines Großreichs werden, könnten die Slowenen ihr neues Selbstbewusstsein zu einem zähen Infight mit der Kommission nutzen. Sind sie dabei so erfolgreich wie einst gegen Belgrad, hat die Kommission ihren Meister gefunden.

Dieser Text erscheintnur in der deutschsprachigen Ausgabe.

* Südosteuropaexperte, lebt als Journalist in Graz.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von NORBERT MAPPES-NIEDIEK