Neom – urbaner Albtraum in der saudischen Wüste
von Lise Triolet

Die Straße, die von der saudischen Stadt Tabuk zum Roten Meer führt, ist nahezu menschenleer. In der Ferne liegen Beduinendörfer, Dromedarherden ziehen durch die spärlich bewachsene Steppe. Um sich vor der sengenden Hitze zu schützen, haben die Hirten ihre Kufijas tief ins Gesicht gezogen.
Lange Zeit lebten die Menschen hier nur von nomadischer Viehzucht und den Ressourcen, die das Meer hergab. Von Wasserstelle zu Wasserstellen zogen die Beduinen einst durch die Wüste, heute wohnen sie in Dörfern. Doch gigantische Bauvorhaben des Königshauses bedrohen erneut ihre Lebensweise: Die Region im Nordosten Saudi-Arabiens steht im Fokus der ehrgeizigen Pläne des Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS).
Künftig soll sich hier auf 26 500 Quadratkilometern die Entwicklungszone „Neom“ vom Golf von Akaba bis zu den Bergen im Landesinneren erstrecken – ein Gebiet von der Größe Belgiens. In „Neom“ – eine Wortschöpfung aus der griechischen Vorsilbe neo und dem ersten Buchstaben des arabischen Worts mustaqbal (Zukunft) – will die Regierung eine Metropolregion mit modernster Infrastruktur errichten, noch größer und raffinierter als die südkoreanische Planstadt Songdo oder Toyotas Woven City in Japan am Fuß des Fujis.
Aktuell sieht man auf einer der größten Baustellen der Welt allerdings nur Bagger und Lkws. „Tag und Nacht fahren hier mehr als 2500 Lkws rein und raus“, berichtet ein ägyptischer Neom-Mitarbeiter, der wie die meisten unserer Gesprächspartner anonym bleiben möchte. Derzeit sind hier insgesamt etwa 140 000 Menschen beschäftigt. Wir befinden uns im größten Lager, Camp NC1, wo etwa 5000 Menschen aus allen Ecken der Welt arbeiten: aus Brasilien, den USA, Spanien, Italien, Indien, Pakistan und Sri Lanka. Die lokale Bevölkerung wird verdrängt: „Für das Camp haben sie Beduinendörfer abgerissen“, erzählt ein Arbeiter.
Nach offiziellen Angaben wurden bereits 6000 Beduinen des Howeitat-Stamms vertrieben, der seit Jahrhunderten in dieser Region lebt. „Nach der Ankündigung des Neom-Bauvorhabens 2020 haben die Menschen sich geweigert, ihre Häuser zu verlassen“, erzählt Lina al-Hathlul, eine saudische Menschenrechtsaktivistin, die im Brüsseler Exil lebt. Wer blieb und die Entschädigung ablehnte, wurde verhaftet; manche kamen ins Gefängnis oder wurden sogar zum Tode verurteilt (siehe nebenstehender Kasten). Abdul Rahim al-Howeiti, ein Dorfbewohner, der die Vertreibungen öffentlich kritisiert hatte, wurde von der Polizei getötet. Der ehemalige Geheimdienstoffizier Rabih Alenezi enthüllte, dass der Innenminister höchstpersönlich die Zwangsvertreibungen und die Niederschlagung jeglichen Widerstands angeordnet hat.1
Von außen sieht das NC1 aus wie eine Militärbasis. Mit Wachleuten, Gesichtserkennungssystemen und anderen Sicherheitsüberprüfungen wird der Zugang zum Camp streng kontrolliert. An der Einfahrt prangt der Slogan „I love Neom“ neben dem Projektlogo. Drinnen fühlt man sich in das dystopische Universum des Films „The Truman Show“ versetzt: Baracken in Reih und Glied mit Solarpaneelen auf dem Dach und kleinen Vorgärten, die offensichtlich regelmäßig gegossen werden. Überall hängen Videokameras; das Gelände wird rund um die Uhr umfassend überwacht.
Im NC1 wohnen vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte, in den Kantinen werden internationale Speisen serviert, es gibt Fitnesscenter und Swimmingpools. Der Tagesablauf der Beschäftigten ist straff organisiert: Büro, Kantine, Sport, Schlaf. Die Büros, manche fensterlos, sind klimatisiert. Das ist auch nötig, denn zwischen Juni und September kann die Außentemperatur auf bis zu 50 Grad steigen. „Hier fließt das Geld in Strömen, ohne jede Kontrolle“, erzählt uns ein Mitarbeiter, als wir ihn darauf ansprechen, dass jedes Gebäude über einen eigenen Generator verfügt. Am Rand des Lagers werden schon weitere Gebäude für die nächsten Ankömmlinge hochgezogen. Eine halbe Autostunde entfernt liegt der neue Flughafen, der als erster von vier geplanten bereits betriebsbereit ist und die Entwicklungszone mit Dubai, Doha und London verbindet.
Hinter Neoms Hightech-Fassade verbirgt sich nach Aussagen der Beschäftigten ein autoritäres Management, das mit ständigem Druck arbeitet. Viele Angestellte äußern zudem Zweifel an der Umsetzbarkeit des Projekts. „Wir leben in einem goldenen Käfig“, sagt ein Europäer. „Aber sobald das Gehalt kommt, ist die Depression wie weggeblasen.“ Die Fachkräfte verdienen oft mehrere zehntausend Euro im Monat, das (steuerfreie) Jahresgehalt von Führungskräften kann bis zu 1,1 Millionen US-Dollar betragen.2 „Alle Chefs hier bauen ihre Karriere auf dieser Illusion auf. Sie sagen sich: Okay, ich kriege in zwei Jahren einen Haufen Geld, ich beiß die Zähne zusammen, und dann bin ich raus“, erzählt ein Mitarbeiter.
Das Neom-Projekt, dessen Kosten zu Beginn auf 500 Milliarden US-Dollar geschätzt wurden, ist Teil der „Vision 2030“, die MBS schon 2016 – damals noch Stellvertretender Kronprinz und Vizepremier – in Auftrag gegeben hatte, vor allem um die saudische Abhängigkeit vom Erdöl zu überwinden. Eines der Ziele der „Vision 2030“ war es auch, das Image der ultrakonservativen Ölmonarchie loszuwerden. Allerdings exportierte Saudi-Arabien 2024 immer noch Erdöl im Wert von etwa 217 Milliarden US-Dollar, was 90 Prozent der Gesamtexporte, 80 Prozent des Haushalts und 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Der Kronprinz will diesen Anteil am BIP bis 2030 auf 10 Prozent senken. Um das zu erreichen, soll das Königreich seine Einkünfte aus anderen Quellen bis dahin auf 265 Milliarden US-Dollar steigern.
„Wir haben leeren Raum, und dort wollen wir 10 Millionen Menschen ansiedeln“, verkündete MBS 2017 in einer Werbekampagne für die Modellstadt „The Line“3 im Rahmen des Neom-Projekts, die sich auf 170 Kilometern von Ost nach West quer durch die Wüste erstrecken sollte – gesäumt von zwei 500 Meter hohen verspiegelten Mauern. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug sollte man in 20 Minuten von einem Ende der Stadt zum anderen gelangen. 34 Quadratkilometer Wüste sollten dafür urbar gemacht werden. Neben internationalen Architekturbüros wie Morphosis, Pei Cobb Freed & Partners und HOK wurden für „The Line“ (bei Planungskosten von 200 Milliarden US-Dollar) dutzende westliche Projektplanungs- und Bauunternehmen engagiert.
Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass „The Line“ das Licht der Welt erblicken wird, zumindest nicht in den ursprünglich vorgesehenen Dimensionen. Am 16. September 2025 kündigte der staatliche saudische Investmentfonds an, den Bau vorerst einzustellen, nachdem man bereits 2024 bereits die Länge von 170 Kilometern auf 3 Kilometer reduziert hatte und in der ersten Phase nur noch 300 000 statt 2 Millionen Menschen angesiedelt werden sollten. Anfang November berichtete die Financial Times, welche Vorhaben im Einzelnen aufgegeben wurden, darunter ein Turm mit 30 Stockwerken, der über einem in die Wüste gebauten Kanal für Frachtschiffe aufgehängt werden sollte.4 Nach Einschätzung der beteiligten Ingenieure hätte diese Konstruktion zu einer Katastrophe geführt.
Doch wie erklärt sich diese völlig unvernünftige Maßlosigkeit? Laut Davide Ponzini, Professor für Urbanistik an der Polytechnischen Universität Mailand und zuständig für Beziehungen zum Nahen Osten, lässt sich hier ein Muster erkennen. Die Monarchien am Golf stützten sich generell nicht mehr auf Traditionen, sondern Innovationen: „Ihre Autorität basiert nicht mehr auf der Bindung an die Vergangenheit, sondern auf der Fähigkeit, eine Vision für die Zukunft zu haben.“ Die Architektin Amal D., die auf einer der Baustellen arbeitet, kann das nur bestätigen: „Ein Projektberater hat uns erklärt, dass Neom die Zukunft repräsentieren soll, nicht die Fortführung der saudischen Kultur. Es sollte nichts mit der traditionellen Architektur zu tun haben.“
Die Architektinnen und Stadtplaner von „The Line“ ließen sich sogar von Carlos Morenos Konzept der „15-Minuten-Stadt“ inspirieren, das der kolumbianische Urbanist an der Pariser Universität Sorbonne erstmals 2016 vorgestellt hat. Es setzt auf sozial wie funktional gemischte Viertel und kurze Entfernungen, das heißt Schulen, Läden, Kultur- und Versorgungseinrichtungen sollen in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein.5 Die Planer von „The Line“ interessierten sich allerdings nur für das Mobilitätskonzept und nicht für die sozialen Aspekte; übrig blieb eine technologische Stadtvision, in der alles digital gesteuert wird. „Diese aus dem Nichts geschaffenen überdimensionierten Städte sind künstlich“, kritisiert Moreno: „Man rühmt sich ihrer technischen Vorzüge, aber dann fragt man sich, wer dort eigentlich leben soll.“
Und weil der mittlerweile 40-jährige Kronprinz auch ein großer Fan von Science-Fiction-Filmen ist, beauftragte er den französischen Konzeptkünstler und Spezialisten für Visual Effects in Hollywood, Olivier Pron, mit der digitalen Bildwelt für „The Line“.6 „Neom ist ein Traum für Architekten, aber ein Albtraum für Geografinnen und Soziologen“, schreibt Alain Musset, Forscher an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften EHESS, in seinem Essay über „The Line“: „Angesichts des Klimawandels versucht man, wie einst Noah, Archen für die globale Oberschicht zu bauen.“7
Doch die Pläne stießen an sehr reale Grenzen: „Auf dem Papier sieht es spektakulär aus, aber die technischen Herausforderungen sind riesig: starke Winde, extreme Hitze, belastetes Baumaterial“, erzählt ein europäischer Ingenieur. Letztlich gehe alles auf die Vision eines einzigen Menschen zurück, dem niemand zu widersprechen wage, fügt sein Kollege hinzu.
Dabei hätte allein das Beispiel der vor 20 Jahren groß angekündigten „Null-CO2“-Stadt Masdar in Abu Dhab den saudischen Premier und De-facto-Herrscher MBS zur Vorsicht mahnen können: Heute ist Masdar lediglich ein schwacher Abklatsch der ursprünglichen Pläne. Oder die King Abdullah Economic City (KAEC) in der Nähe von Dschidda: Das 100 Milliarden Dollar schwere Megaprojekt wurde 2005 auf Initiative von König Abdullah (1924–2015) begonnen. Hier sollten bis 2035 2 Millionen Menschen leben – bislang sind es lediglich 10 000.
Viele junge Mitarbeiter:innen, vor allem die Saudis und Menschen aus anderen arabischen Ländern, glauben noch an den Erfolg von Neom. „In Katar war es ähnlich“, meint Jussef, Assistent eines Projektleiters. „Zwei Jahre vor der Fußballweltmeisterschaft waren viele Stadien noch nicht mal im Bau. Doch dann ging auf einmal alles ganz schnell. An manchen Baustellen hakt es, an anderen geht es voran. Wenn man nicht daran glaubt, hat man hier nichts verloren.“
Die Architektin Amal ist ebenfalls zuversichtlich, trotz der skeptischen Stimmen. „Wir stehen ja erst am Anfang. Die anvisierten Ziele scheinen mir jetzt realistischer als vorher. Es ist eben ein sehr ehrgeiziges Projekt, aber es war niemals die Rede davon, dass 2030 alles fertig sein muss. Meine Eltern haben mich daran erinnert, dass anfangs auch niemand an Dubai geglaubt hat und keiner dort arbeiten wollte.“ Eine ihrer Kolleginnen regt sich über die Kritik aus dem Westen auf: „Sobald sich ein Nahost-Land weiterentwickeln will, bekämpfen sie das.“ Und eine andere fügt hinzu: „Was für eine Heuchelei! Die USA sprechen von Menschenrechten und lassen ihr eigenes Volk verelenden.“
Auch wenn die Moden und Umgangsformen vor Ort unverkennbar vom Westen inspiriert sind, reagiert man patriotisch auf Kritik am Königshaus. „Für die meisten Jugendlichen sind moderne Technologien und der Konsumismus selbstverständlich, doch zugleich akzeptieren sie den Autoritarismus – wie vor 30 Jahren in China“, sagt Hamit Bozarslan, Historiker und Forscher an der Pariser Hochschule EHESS. „Sie übernehmen die Hollywood-Ästhetik, die Mischung der Geschlechter und globale Kulturtechniken, und dennoch sagen sie: ‚Wir sind Nationalisten, wir sind Muslime.‘ Der Autoritarismus wird akzeptiert, weil der Kronprinz Mohammed bin Salman die Moderne verkörpert. Wenn Regierungen oder Gesellschaften auf Autoritarismus setzen, ist das eine politische Entscheidung und keine kulturelle Gegebenheit.“
Nicht weit entfernt von der Baustelle, nahe der Königsresidenz Sharma, vergnügt sich eine Gruppe junger Saudis, die bei Neom beschäftigt sind, an einem langen, makellosen Sandstrand. Aus einer Bluetooth-Box schallen Umberto Tozzis „Gloria“ und andere Diskohits. Ein junger Mann mit gepflegtem Bart in T-Shirt und Shorts sitzt neben seiner Freundin im ärmellosen Top. Diese Szene könnte sich genauso gut in Miami, Cannes oder Jumeirah Beach in Dubai abspielen. Die jungen Frauen tragen Badeanzüge; eine raucht E-Zigarette und freut sich über ihren Hund, der gerade mit einer Krabbe spielt.
Eine solche Szene wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, als Frauen weder das Recht hatten, am Lenkrad zu sitzen noch ohne Hidschab und Begleitung eines Mannes auszugehen. Inzwischen genießt die saudische Jeunesse dorée Freiheiten, die sich die vorhergehende Generation nicht vorzustellen wagte. Frauen können inzwischen allein reisen und müssen auch keine Abaja mehr tragen; doch das bodenlange Überkleid ist nach wie vor beliebt. „Ich bin überrascht von der Schnelligkeit des Wandels“, sagt ein europäischer Bauleiter. „Jetzt sieht man die Gesichter der Frauen. Vor knapp zwei Jahren durften wir noch nicht einmal an einem Tisch mit ihnen sitzen.“ Die jungen Mitarbeiterinnen neben uns nicken, und manche erzählen ihre Geschichte.

Rassismus und Größenwahn
Eine hat sich einer arrangierten Ehe entzogen, eine andere hat ihre Verlobung mit einem Mann, der ihr den Hidschab aufzwingen wollte, gelöst. „Die Ehe ist eine Institution, um die Frauen zu kontrollieren, um sie einzuschränken, um ihnen vorzuschreiben, Kinder zu bekommen“, erklärt eine Angestellte. „Sie sagen uns, die Frauen würden bremsen, aber es sind sie selbst, die Männer, die uns daran hindern, voranzukommen. Ich bin die einzige Ingenieurin in meinem Team“, fügt sie stolz hinzu. „Meine männlichen Kollegen sind alle verheiratet und sehr misogyn.“
Viele saudische Frauen, die im Ausland – oft in den USA oder in Europa – studiert haben, übernehmen Jobs in internationalen Unternehmen, die angehalten sind, Einheimische einzustellen; das gilt auch für Neom. Bis 2030 will die Regierung 6 Millionen Arbeitsplätze schaffen für die 300 000 jungen Menschen, die jährlich auf den Arbeitsmarkt strömen. Die Maßnahme ist Teil eines größeren Programms zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Von den 35 Millionen Einwohnern des Landes sind über 60 Prozent unter 30 Jahre alt; 2024 stellten saudische Frauen offiziell 36 Prozent der arbeitenden Bevölkerung.8 Die saudische Jugend wird mittlerweile aufgefordert, auch einfache Jobs im Verkauf, in Restaurants oder auf dem Bau anzunehmen, die früher nur Arbeitskräfte aus dem Ausland erledigt haben.
Die „Saudisierung“ des Arbeitsmarkts führte zu einer Verschärfung der Einwanderungspolitik und zur Ausweisung von 2 Millionen Migrant:innen. 2024 wurden von über 994 000 festgenommenen Ausländer:innen nach einer Haftzeit unter unwürdigsten Bedingungen mindestens 573 000 ausgewiesen. An den Grenzen wurden Folter und Morde dokumentiert. Zwischen März 2022 und Juni 2023 soll der saudische Grenzschutz hunderte äthiopische Migrant:innen getötet haben.9
Wie in den anderen Golfmonarchien arbeiten auch bei Neom Menschen aus Pakistan, Bangladesch, den Philippinen, Indien und Nepal auf den Baustellen, in den Kantinen, als Fahrer oder Reinigungskräfte. „Die Philippiner und Inder halten die Maschine am Laufen, die Briten dirigieren sie“, meint ein Beschäftigter aus Südeuropa resigniert. „Ein Brite verdient 15 000 Saudi-Riyal (3500 Euro) mehr als ich – bei gleicher Qualifikation! Die Pakistaner und Inder, die dieselbe Arbeit verrichten, werden noch schlechter bezahlt.“ Das sei aber kein Rassismus, meint er: „Das ist hier einfach die Norm, darüber wird nicht diskutiert“.
Dennoch gibt es mittlerweile deutlich mehr Beschwerden über Rassismus und Sexismus in der Neom-Führung. Der Projektmanager Wayne Borg, der aus der Filmindustrie von Hollywood kommt, soll sich wiederholt islamophob und rassistisch geäußert haben. Die asiatischen Arbeiter, die auf den Baustellen tödlich verunglückt sind, habe er als „Dummköpfe“ bezeichnet und hinzugefügt: „Deshalb stehen die Weißen oben auf der Leiter.“ Und von dem früheren Neom-Geschäftsführer Nadhmi al-Nasr wird folgendes Zitat kolportiert: „Ich behandle alle wie Sklaven. Wenn einer von ihnen stirbt, bin ich zufrieden.“ Nach sechs Jahren an der Spitze des Projekts wurde er 2024 entlassen.10
Die Lebensbedingungen der asiatischen Arbeitskräfte in Neom sind erbärmlich und arbeitsrechtliche Verstöße alltäglich – ähnlich wie auf den Baustellen für die Fußball-WM in Katar. In einer Dokumentation des britischen Senders ITV wird gezeigt, dass sie in informellen Lagern hausen, oft über 60 Stunden pro Woche arbeiten und auf die vereinbarten Ruhetage verzichten müssen.11 In dem Film heißt es auch, dass auf den „Vision 2030“-Baustellen seit 2017 über 21 000 Arbeitskräfte aus Indien, Bangladesch und Nepal gestorben seien.
Dagegen wohnen die hochqualifizierten Fachkräfte, bei ebenfalls überlangen Arbeitszeiten, weitaus besser – und genießen Freiheiten, von denen die anderen nur träumen können.
Ein beliebtes Ausflugsziel ist die Bajda-Wüste nahe Tabuk. Einmal kommen wir abends mit. Am Lagerfeuer fangen sie an zu plaudern. Manche arbeiten bereits seit mehreren Jahren für Neom, andere sind gerade erst eingetroffen. Sie unterhalten sich über die Hauptstadt Riad. Manche sagen, man würde schon merken, dass der wahhabitische Konservatismus allmählich auf dem Rückzug sei. „Riad wird ein neues Dubai“, behauptet Antonio, ein junger Ingenieur, und bezieht sich damit auf den liberalen Ruf der Hauptstadt der Emirate (VAE). In der saudischen Hauptstadt geht es aber immer noch viel strenger zu, selbst wenn in den Botschaften und anderen westlichen Vertretungen inzwischen Alkohol ausgeschenkt wird. „Sie können dort machen, was Sie wollen, aber diskret“, warnt Antonios Kollege. Die Saudis wollten zwar Touristen anlocken, meint er. Aber man muss aufpassen, dass man nicht über die Stränge schlägt, denn dann sei man „geliefert.“
Am Ende dieser sternenklaren Nacht in den Dünen, eigentlich das Zuhause der Beduinen, landet man wieder bei der einen großen Frage, die alle hier beschäftigt: Was bleibt von dem gigantischen Neom-Projekt?
3 „The Line: Saudi Arabia’s city of the future“, Discovery Channel, 2023.
6 „Mythical tomorrow“, Trailer von „The Line“ von Olivier Pron, olivierpron.com.
11 „Kingdom Uncovered: Inside Saudi Arabia“, ITV, 2024.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Lise Triolet ist Journalist.
Verfolgen und hinrichten
von Lise Triolet
Die saudische Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren merklich modernisiert. Nur eine Sache wird nach wie vor mit krassen Gefängnisstrafen geahndet: Kritik am Königshaus. Die äußert man nur hinter vorgehaltener Hand. Auch in den sozialen Medien ist man auf der Hut. Immer mehr Menschen würden von einem Tag auf den anderen verschwinden, erzählt die Exilaktivistin Lina al-Hathlul: „Wir haben den Fall eines Uber-Fahrers dokumentiert, der sich über sein geringes Gehalt beklagt hatte und über die steigende Arbeitslosigkeit, weil Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen wurden. Nur wegen dieser Tweets wurde er verhaftet und zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.“
Politischer Widerspruch gilt in Saudi-Arabien als terroristischer Akt, der mit der Todesstrafe geahndet werden kann. 2024 wurden 345 Hinrichtungen vollstreckt – so viele wie seit 30 Jahren nicht mehr. 2025 könnten es sogar noch mehr werden: Bis Ende November wurden schon 300 Menschen hingerichtet, darunter viele Ausländer, denen Drogendelikte zur Last gelegt wurden, und junge Leute, die der schiitischen Minderheit angehören. Die hatte sich 2011 maßgeblich an den regierungskritischen Demonstrationen im Osten des Landes beteiligt. Dabei hatte der Kronprinz 2022 noch verkündet, die Todesstrafe abschaffen zu wollen, ausgenommen die Fälle, bei denen es die Scharia vorschreibt.
Viele Verfasser kritischer Social-Media-Posts wurden laut Amnesty International zu langen Haftstrafen verurteilt. 2024 wurde beispielsweise der Lehrer Asaad bin Nasser al-Ghamdi wegen seiner Kritik an den ökonomischen und sozialen Verwerfungen, die mit der Umsetzung der „Vision 2030“ einhergehen, zu 20 Jahren Haft verurteilt, inzwischen wurde die Strafe auf 15 Jahre reduziert. Bei seinem Bruder Mohammad wurde wegen ähnlicher Verlautbarungen das ursprüngliche Todesurteil in 30 Jahre Haft umgewandelt.
Manahel al-Otaibi bekam 10 Jahre Haft, weil sie Fotos von sich ohne Abaja gepostet und Bevormundungen durch Männer angeprangert hat. Sie wurde im Gefängnis beraubt, isoliert und tätlich angegriffen. Salma al-Shebab, die in England an der Universität Leeds promoviert, saß vier Jahre in Haft, nur weil sie auf Twitter Beiträge für Frauenrechte veröffentlicht hat, was in Saudi-Arabien als terroristischer Akt gilt. Sie wurde am 10. Februar zwar entlassen, darf aber nicht ausreisen.
Nach Ansicht von Bernard Haykel, Professor für Nahoststudien an der Universität Princeton und laut BBC News regelmäßiger Gesprächspartner des Kronprinzen, sei das ein „akzeptabler Preis in einer rasanten Transformationsphase“. Mohammed bin Salman sei eben ein „autoritärer Reformer“, sagt Haykel, und es sei sein Verdienst, dass das alte wahhabitische System abgeschafft und ein moderner Nationalstaat aufgebaut werde.


