Brief aus Nairobi
von Carey Baraka

Oktober in Nairobi und die Wolken sind grau, die Jacaranda-Bäume blühen lila und Raila Odinga ist tot. Seit ein paar Wochen trauert ganz Kenia um ihn. Odinga war eine Zeit lang Premierminister (2008–2013), aber er war auch – in einem früheren Leben – der am längsten inhaftierte politische Gefangene im unabhängigen Kenia.
Das ist der Grund, warum das Land um Odinga trauert. Jahrzehntelang hat er unermüdlich für eine Mehrparteiendemokratie und für den Aufbau sozialer Sicherungssysteme gekämpft. Dass er in den letzten Jahren seines Lebens eine Reihe politischer Entscheidungen traf, die im Widerspruch zu seinen Verdiensten als Reformer standen, tat der Trauer keinen Abbruch.
Odinga starb in einem Krankenhaus in Indien, wo er sich zur Behandlung befand. Am 15. Oktober hatte er bei einem Spaziergang einen Herzstillstand erlitten. Kenias Präsident William Ruto ordnete eine Woche Staatstrauer an. Odingas Leichnam wurde nach Kenia überführt, um in drei Städten (Nairobi, wo ich lebe, Kisumu, wo ich aufgewachsen bin, und Bondo, der Heimat Odingas) öffentlich aufgebahrt und dann in einem Staatsakt beigesetzt zu werden.

Als er auf dem Internationalen Flughafen von Nairobi ankam, stürmten die Menschen das Rollfeld, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die schiere Größe der Menge überforderte die Sicherheitskräfte. Der Flughafen musste für Stunden geschlossen werden.
Das Vorhaben, den Toten im Parlamentsgebäude aufzubahren, musste abgesagt werden, nachdem klar wurde, dass die Menschenmenge nicht zu bewältigen sein würde. Stattdessen wurde der Sarg ins größte Stadion von Nairobi gebracht. Doch auch hier kam es zu chaotischen Szenen, drei Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen.
Die Geschäfte in der Hauptstadt blieben tagelang geschlossen, Eltern behielten ihre Kinder zu Hause und überall in der Stadt wurden Autos mit grünen Zweigen geschmückt – für die Volksgruppe der Luo, der Odinga angehörte, ein Zeichen der Trauer.
Am Tag vor seiner Beisetzung überlegte ich, mehrere hundert Kilometer westwärts nach Bondo zu fahren, wo die Trauerfeierlichkeiten stattfinden sollten. Natürlich wären die Straßen verstopft und zur Feier selbst zu gelangen, würde so gut wie unmöglich sein.
Hunderttausende würden sich, mit demselben Wunsch wie ich, dort einfinden. Und ja, Odingas Familie hatte keine öffentliche Beisetzung gewünscht. Dennoch war ich entschlossen: Mein Auto war gerade aus der Werkstatt zurück, mir waren Honorare für einige Texte überwiesen worden und ich war frei.
Ich wollte dieses historische Ereignis auf keinen Fall verpassen. Mein Großvater hatte 1969 der Bestattung von Tom Mboya beigewohnt. Mboya war ein Gewerkschafter und Politiker, der 1969 ermordet worden war. Die Drahtzieher des Attentats kamen mutmaßlich aus dem Umfeld von Jomo Kenyatta (1964–1978), dem ersten Präsidenten Kenias nach der Unabhängigkeit.
Ich habe meinen Großvater stets um die Geschichten beneidet, die er von Mboyas Beerdigung erzählen konnte. Ich stellte mir vor, wie ich in 60 Jahren selbst jungen Leuten ähnliche Geschichten erzählen würde: Ich war dabei. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich war es leid, nicht dabei zu sein, wenn Geschichte gemacht wurde.
Immerhin – im Jahr zuvor war ich Teil einer gewaltigen sozialen Bewegung gewesen. Im Juni 2024 wurde Kenia von einer Welle regierungskritischer Proteste erfasst. In mehreren Städten versammelten sich riesige Menschenmengen, um gegen ein neues Steuergesetz zu demonstrieren. Vorgesehen war darin unter anderem die Einführung von Steuern auf Lebensmittel und Menstruationsprodukte sowie die Erhöhung der Steuern auf importierte Süßwaren und Tabak.
Nach dem ersten Protesttag bezeichnete Ruto die größtenteils jungen Demonstrant:innen als „Terroristen“. Das heizte die Wut weiter an. Die Menschen forderten jetzt nicht nur die Rücknahme der Steuern, sondern auch den Rücktritt des Präsidenten.
Ich sage „sie“ und suggeriere damit eine journalistische Distanz zu dem, was sich auf den Straßen abspielte, aber das ist falsch. Ich war selbst einer jener jungen Menschen, die von Ruto als Terroristen bezeichnet wurden.
Am helllichten Tage mussten wir im Zentrum von Nairobi vor Polizisten auf Quads und Pferden flüchten, vor Männern in Zivil, die uns niederknüppelten, und vor Tränengasgranaten und Wasserwerfern. Manche von uns wurden von der Straße weg in Polizeifahrzeuge gezerrt.
Nachts ging die Polizei von Haus zu Haus, nahm angebliche Rädelsführer mit und ließ sie verschwinden, ohne sie je einem Haftrichter vorzuführen. Berichte machten die Runde, dass einige der Festgenommenen an anderen Orten der Stadt wieder aufgefunden wurden, tot.
Trotzdem demonstrierten wir weiter. Wir marschierten durch Nairobi und skandierten und sangen regierungskritische Lieder. Jemand hatte das Gerücht verbreitet, dass man mit Zahnpasta den brennenden Schmerz von Tränengas lindern könne. Ob das stimmte, war unwichtig. Wichtig war, dass sich ein Meer von Menschen mit Zahnpasta unter den Augen versammelt hatte. Das Tränengas brannte trotzdem.
Am schlimmsten traf es diejenigen, die in den ersten Reihen liefen. Aber wenn sie zurückfielen, um die Augen mit Wasser zu spülen, das ihnen Fremde aus der Menge reichten, rückten, wie bei den Wanderameisen, die hinteren Reihen der Protestierenden nach vorn und nahmen ihren Platz ein.
Die Energie der Masse schien unerschöpflich. An einer Ecke des zentralen Geschäftsviertels, ganz in der Nähe des Obersten Gerichts, stand eine Plakatwand mit dem Konterfei von Ruto. Ich war Teil der Menge, die sich unter diesem Bild versammelte und ihm ihre Lieder entgegenschmetterte. Eine Staffel berittener Polizei hatte uns im Visier, die Pferde wirkten nervös ob der schieren Menge an Menschen und des Lärms, den wir machten.
Rutos Weigerung, seine Worte zurückzunehmen oder das brutale Vorgehen der Polizei zu verurteilen, empörte die jungen Leute auf den Straßen auf eine Weise, wie es seit den frühen 1990er Jahren nicht mehr vorgekommen war.
Damals war das Land eine Einparteiendiktatur, die von einem Größenwahnsinnigen namens Daniel arap Moi (1978–2002) beherrscht wurde, und die Jugend demonstrierte für freie und gerechte Wahlen. An der Spitze der Proteste stand eine Gruppe, die man als „Jungtürken“ bezeichnete, und der Prominenteste unter ihnen war schon bald Raila Odinga.
Das Wörtchen „jung“ war allerdings fehl am Platz: Odinga – wie viele andere Jungtürken – war bereits in seinen Vierzigern. Kaum aus dem Gefängnis entlassen, stürzte er sich in radikale Aktionen – wie es meine Generation 34 Jahre später mit ihren Straßenprotesten machte. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden historischen Momenten sind fast schon unheimlich, und die Rolle, die William Ruto jeweils spielte, ist es nicht weniger.
Ruto wurde bekannt als Handlanger Mois, für den er bewaffnete Banden organisierte, um politische Gegner auszuschalten. Ähnliche zwielichtige Banden sind während der Proteste gegen die Regierung aufgetaucht. Demonstrierende wurden von Männern, die regierungsfreundliche Parolen skandierten, zusammengeschlagen und vergewaltigt, Geschäfte wurden geplündert. Funktionäre aus Rutos Partei wurden beschuldigt, diese Übergriffe veranlasst und geplant zu haben, einige von ihnen werden mit den Worten zitiert, Vergewaltigungen würden junge Frauen vom Demonstrieren abhalten. Die Instrumentalisierung sexueller Gewalt ist Teil der Strategie der Regierung.
Ruto drängte zudem die Polizei, mit scharfer Munition auf die Protestierenden zu schießen. Die Bilanz: mindestens 31 Tote. Manche Verhaftete wurden als Terroristen angeklagt. Der Vorwurf ist absurd, aber er wiegt schwer, Terrorismus gilt als Kapitalverbrechen. Jede Opposition gegen Ruto wird im Grunde wie Hochverrat behandelt, der die Todesstrafe verdient hat, ganz wie seinerzeit unter Moi, als Odinga so viele Jahre im Gefängnis verbrachte.
Es war ein Deal zwischen Ruto und Odinga, der die Proteste von 2024 beendete. Odingas Partei wurde an Rutos Regierung beteiligt und Odinga setzte im Gegenzug seine Popularität im Land als Puffer für Ruto ein.
Für die Demonstrierenden war es der denkbar größte Verrat. Odinga, die Ikone der kenianischen Demokratiebewegung der 1980er und 1990er Jahre und einer der Hauptverantwortlichen für die neue Verfassung von 2010 – eine der fortschrittlichsten der Welt –, erstickte de facto unseren Protest. Denn von da an fühlte sich Ruto sicher und glaubte, nach Belieben schalten und walten zu können.
So kam es, dass Odinga in seinem letzten Lebensjahr in den Augen der kenianischen Jugend vom Helden zum Schurken wurde. Das schiere Ausmaß der Trauer über seinen Tod kam daher völlig überraschend. Aber vielleicht funktioniert Liebe nun einmal so.
Mehrere Freunde erklärten mir, Odinga habe ihnen 2024 das Herz gebrochen. Und das Herz brechen kann einem nur jemand, der einem wirklich viel bedeutet. Eine gute Freundin erzählte mir, sie habe trotz ihres Zorns über den Odinga-Ruto-Deal nach seinem Tod tagelang um ihn geweint. Und als ich ihr gestand, ich hätte vor, zur Beisetzung nach Bondo zu fahren, bestärkte sich mich nach Kräften.
Ich bin dann doch nicht gefahren. Ich hatte Deadlines einzuhalten, nicht zuletzt für ein längst überfälliges Buchmanuskript. Ich blieb also in Nairobi und verfolgte die Trauerfeier im Fernsehen, während ich nebenher durch Instagram-Posts in Gedenken an Odinga scrollte.
Er habe für die Sache gekämpft. Habe dafür im Gefängnis gesessen. Habe Übereinkünfte geschmiedet. An die Politik geglaubt. Er sei im Herzen ein Progressiver gewesen, habe aber als alter Mann, im Bündnis mit Ruto, mehr und aus Eigeninteresse gehandelt.
Ich fahre durch die Stadt, sehe die grünen Zweige an den Stoßstangen der Autos und bin betört vom Anblick der Jacarandas, die die Stadt in das Lila ihrer Blüten tauchen. Es beginnt zu regnen, als wollte sich das Wetter selbst von Odinga verabschieden.
Noch etwas geschah, als Odinga starb. Kurz bevor der Staat Odingas Tod bekannt gab, unterzeichnete Ruto acht Gesetze, die meisten davon versetzten die prodemokratischen Gruppen des Landes in Alarmstimmung.
Das haarsträubendste darunter ist ein weitreichendes Gesetz gegen Cyberkriminalität. Es schränkt den Schutz der Anonymität von Whistleblowern erheblich ein und wird als potenzielle Waffe gegen kritische Stimmen betrachtet. Nach Ansicht der kenianischen Menschenrechtskommission verleiht es „dem Regime de facto die Ermessensfreiheit, zu bestimmen, was wahr ist, und all jene zu bestrafen, die sich dagegen aussprechen“.
Am Ende war Odingas Tod ein Glück für Ruto: Er konnte das einstige Idol ein letztes Mal benutzen, um die Demokratie zu schwächen und seine eigene Macht zu konsolidieren.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Carey Baraka ist Autor, er schreibt Fiction und Nonfiction.
© LMd, Berlin


