12.05.2022

Das System Calais

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Das System Calais

Wie Schleusernetzwerke vom rigiden Grenzregime am Ärmelkanal profitieren

von Élisa Perrigueur

Die Gräber der Ertrunkenen auf dem Nordfriedhof von Calais, 25. November 2021 RAFAEL YAGHOBZADEH/picture alliance/ap
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Das Boot ist im Wald, heute Abend fahren deine Freunde los.“ Diese und andere Kurznachrichten führten an der nordfranzösischen Küste zu drei Mobiltelefonen, die nun als Beweisstücke dienen. Auch Fotos von überfüllten Schlauchbooten, Pässen und Geldbündeln sind darauf gespeichert sowie Videos, die über Tiktok verbreitet wurden und für Überfahrten nach Großbritannien werben.

Sie illustrieren die Logistik eines Schleusernetzwerks, das allein im Sommer 2021 für mehr als 500 Mi­gran­t:in­nen – die meisten kamen aus Libyen, dem Irak, Somalia, Eritrea und Vietnam – die Reise über den Ärmelkanal organisiert und damit schätzungsweise 1,3 Millionen Euro eingenommen hat.

Am 6. Dezember 2021 wurden die drei Besitzer dieser Handys, ein Syrer und zwei irakische Kurden, alle drei Anfang zwanzig, in Boulogne-sur-Mer in einem Schnellverfahren zu ein bis vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ihnen wird Beihilfe zur illegalen Einreise und Aufenthalt zur Last gelegt. Laut der Brigade mobile de recherche (BMR), einer Sondereinheit der französischen Grenzpolizei, fungierte der eine als „Kundenfänger“, der die Migranten in den Lagern ansprach, der zweite als „Vermittler“, der die Kontakte herstellte, und der dritte als „Fahrer“, der sie bis zu den Dünen brachte, wo die Boote lagen.

Der BMR-Sprecher vergleicht das Vorgehen des Netzwerks mit der Arbeitsteilung von Drogenkartellen. Es gibt Koordinatoren, Quartiergeber und Logistiker direkt vor Ort und im Hintergrund ominöse Drahtzieher und Vermögen, die sich schwer nachverfolgen lassen. Die Schlepper nutzen ein informelles Zahlungssystem, ähnlich wie das vor allem in Südasien und im Nahen Osten gebräuchliche Hawala-Banking: Die Migranten hinterlegen Geld bei vertrauenswürdigen Vermittlern im Ausland, das erst ausgezahlt wird, wenn sie ihr Ziel erreicht haben.

„Ich hatte kein Geld, aber ich wollte rüber. Die Schlepper haben mich gezwungen, für sie zu arbeiten. Sie haben gedroht, meine Freundin zu vergewaltigen“, verteidigt sich weinend einer der Angeklagten, der das Elend seines Exils in Europa schildert. Die drei Männer wollen ihre Rolle in der Organisation kleinreden und belasten einen geheimnisvollen Chef, den sie „Souka“ nennen, einen irakischen Kurden, der „für alles verantwortlich“ sei. Er soll mit seinen Komplizen die Preise für die Überfahrt nach Hautfarbe festgelegt haben. „Afrikaner zahlen 3000 Euro. Kurden wie wir nur 1500 bis 1700 Euro“, berichtet ein anderer.

„Viele Schlepper sind Migranten, die nur versuchen, ihre Überfahrt zu bezahlen, indem sie für die Netzwerke arbeiten. Man muss sie von den echten Menschenschmugglern unterscheiden, die ihnen die Befehle geben und damit reich werden“, erklärt Kamel Abbas, der Anwalt eines Angeklagten. In Nordfrankreich sind diese kleinen Hand­langer oft die einzigen greifbaren Akteure.

Fast jede Woche stehen einige von ihnen vor den Schnellgerichten von Bou­logne-­sur-Mer oder Dunkerque. Die rasche Bestrafung „trägt zur Abschreckung der Schlepper bei“, behauptet das Gericht von Dunkerque. „Ein Schnellgericht lässt das Phänomen aber nicht verschwinden“, widerspricht die Anwältin Margot Montagne: „Die großen Fische sehen wir nie.“

Die kurdischen, albanischen, vietnamesischen oder rumänischen Hintermänner scheinen unangreifbar. Anfänglich bestand ihre Methode darin, die Flüchtenden in einem der 3 Millionen Lastwagen zu verstecken, die jedes Jahr über den Hafen von Calais oder durch den Eurotunnel nach England fahren. Die Fahrt kostet 4000 Euro, wenn der „Kunde“ ohne Wissen des Lkw-Fahrers in einer Ladung versteckt wird. Eine sogenannte VIP-Passage mit Unterstützung der oft mitteleuropäischen Fahrer, die ihr mageres Gehalt aufbessern wollen, kostet bis zu 12 000 Euro. Seit 2018 organisieren die Schlepper außerdem Überfahrten in Schlauchbooten.

Der französische Innenminister spricht von der Zerschlagung dieser Netzwerke: 2020 flogen in den Dé­parte­ments Nord und Pas-de-­Calais 27 Schleuserringe auf, 2021 sogar 35. „Nach jeder Verhaftung eines Mitglieds nimmt ein anderer dessen Platz ein“, hält Vincent Kasprzyk dagegen, der von 2015 bis 2019 BMR-Hauptmann war. „Die Netze bilden sich immer wieder neu, denn ihre Chefs sitzen meistens in Großbritannien oder anderswo im Ausland.“

Um diesem Problem zu begegnen, wurde 2019 die Nationale Gerichtsbarkeit für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität (Junalco) geschaffen „Die Chefs haben keine Verbindung zu Frankreich, sie tauchen kurz auf und passieren problemlos die Grenzen“, berichtet Pascal Marconville, erster Staatsanwalt am Berufungsgericht von Douai. Eine weitere Schwierigkeit: Die Mi­gran­t:in­nen schweigen. „Sie sehen sich nicht als Opfer, sondern als Kunden. Anzeige gegen die Schlepper stellen sie nie.“

Die Netzwerke arbeiten also weiter, was die stabile Zahl der Asylanträge in Großbritannien zeigt.1 2021 haben mehr als 28 000 Mi­gran­t:in­nen Großbritannien per Boot erreicht.2 Die Zahl der Überfahrten im Lkw geht nur leicht zurück: 2021 wurden nach Angaben der Präfektur von Pas-de-Calais 13 937 Mi­gran­t:in­nen aus Lastern im Hafen von Calais oder im Eurotunnel geholt. Doch Tausende andere entgehen den Kon­trollen.

Hinter diesem Schmuggel steht eine große Nachfrage. Großbritannien ist als Zielland besonders begehrt. Die ersten Schleuser kamen 1999 aus Albanien, um die Route für Geflüchtete aus dem Kosovo zu erschließen. Schnell folgten andere Gruppen. Anfang 2022 hingen etwa tausend Geflüchtete, die meisten irakische Kurden, Sudaner, Eritreer und Afghanen, in billigen Hotels oder in unsicheren, abgelegenen Transitlagern fest, die regelmäßig von der Polizei zerstört werden.

Entweder ich schaffe es oder ich sterbe

„Viele Schlepper sprechen uns hier in Calais direkt an. Zwei Pakistaner, die ich nicht kannte, haben mir eines Nachts angeboten, mich für ein paar tausend Euro im Auto mitzunehmen“, erzählt ein 25-jähriger syrischer Flüchtling, der Kette rauchend auf dem Deich sitzt. „Ich will aber mit dem Boot rüber, das ist billiger. Mein Geld liegt in einem Büro in der Türkei. Ich habe es schon fünfzehnmal versucht, aber die Küste wird überwacht. Je mehr Leute an Bord sind, desto billiger. Entweder ich schaffe es oder ich sterbe.“

Wie dieser junge Softwareentwickler erzählen auch andere Migranten, dass sie Familie in Großbritannien haben oder hoffen, dort einen informellen Job zu ergattern. Aber die Möglichkeiten mittels legaler Verfahren, zum Beispiel Familienzusammenführung, ins Land zu kommen, sind begrenzt. Die britischen Behörden wissen das. Nach einem Regierungsbericht wurden 2019 in den ersten neun Monaten 62 Prozent der Asylanträge von Personen gestellt, die illegal eingereist waren.3

Im Oktober 2021 hat die britische Regierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Sanktionen für Mi­gran­t:in­nen vorsieht, die „ohne Genehmigung“ eingereist sind. Sie reichen bis zu Gefängnisstrafen.4 „Ich sehe mich nicht als Opfer der Schlepper, sondern vielmehr der Staaten, die Migranten ungerecht behandeln. Diese Schleuserringe haben Dreck am Stecken, aber sie bieten uns wenigstens ein Geschäft an“, sagt der Syrer Mohammed. „Ihr System lebt davon, dass es keine legalen Wege nach Großbritannien gibt und dass die Lebensbedingungen in den französischen Lagern so miserabel sind“, erklärt François Guennoc von der NGO L’Auberge des migrants.

Die Schlepper profitieren auch von den Gesetzeslücken. Inzwischen ist die Konkurrenz so gewachsen, dass sie sich seit den 2000er Jahren einen regelrechten „Parkplatzkrieg“ liefern, wie die Grenzpolizei berichtet: Die am besten organisierten Gruppen – meist bestehend aus Albanern, Kurden oder Vietnamesen – streiten sich um die Parkplätze entlang der A16 und A26, wo jede Nacht Menschen in Lkws versteckt werden, die nach Calais oder zum Euro­tunnel unterwegs sind.

In diesem territorialen Bandenkrieg spielen irakische Kurden seit Langem eine besondere Rolle; laut einer Insiderquelle sind die meisten von ihnen ehemalige Peschmerga-Kämpfer, die flache Hierarchien gewohnt sind. Die Region um Dunkerque herum sei im Laufe der Zeit zu ihrem „privaten Jagdrevier geworden“, bestätigt der Dunkerquer Staatsanwalt Sébastien Piève.

Viele verhaftete Schlepper kommen aus Sulaimaniyya, Dschamdschamāl, Kirkuk oder Erbil, sind meist zwischen 25 und 30 Jahre alt und haben teilweise eine Aufenthaltsgenehmigung. Einige sind Wiederholungstäter und bekommen dann ein Aufenthaltsverbot für die Region, weil es kein Rücknahmeabkommen mit dem Irak gibt. Es herrsche eine scharfe Konkurrenz unter den verschiedenen kurdischen Gruppen, berichtet der Staatsanwalt: „Teilweise setzen sie sogar Spitzel ein.“

Die Ermittler haben schon mehrfach Glock-Pistolen oder AK-47-Maschinenpistolen gefunden. „Um dein Ansehen zu wahren, musst du dich verteidigen“, erzählt ein Schlepper aus Ranya im Januar 2022 am Telefon. „Mein Kollege wurde von einem Kurden aus Kalar angeschossen, der es auf unser Territorium abgesehen hat“, so der Mann, der selbst Befehle erteilt und nach eigener Aussage einen Parkplatz bei Dunkerque „besitzt“. „Ich nehme 6000 Euro für eine Überfahrt im Lastwagen. Das ist ein Festpreis. Wir sind zuverlässig, aber die Arbeit ist gefährlich. Wir stehen immer mit einem Bein im Gefängnis“, rechtfertigt er sich. Stolz erzählt er, dass er von seinen Einnahmen seit 2003 schon mehrere Häuser gekauft hat.

Er arbeitet mit Albanern und Briten zusammen. Sie konzentrieren sich vor allem auf Kühltransporter, weil die weniger kontrolliert werden, und geben ihren Kunden dafür warme Mäntel mit: „Die Leute wissen, was sie riskieren, aber sie wollen weg aus Kurdistan, wo doch alle korrupt sind. Ich bekomme täglich zwanzig bis dreißig Anrufe, um Ausreisen zu organisieren.“ Im Winter taucht er im Ausland unter, im Frühling kommt er zurück.

Rund um Calais hat die Präfektur mittlerweile Autobahnraststätten geschlossen. Doch die Schlepper passen sich an und fahren auf der Suche nach Transportern bis nach Le Mans oder Belgien. Gleichzeitig unternimmt die britische Regierung alles Mögliche, um die Grenzen dichtzumachen, insbesondere finanziert sie die Verstärkung der französischen Polizei.

Der Eurotunnel und der Hafen von Calais sind komplett eingezäunt und mit diversen Kontrollgeräten wie Röntgenscannern oder CO2-Sensoren ausgestattet. Durch den 2018 vereinbarten bilateralen Kooperationsvertrag von Sandhurst hat Frankreich insgesamt 149,8 Millionen Euro von den Briten bekommen. Nach Angaben des französischen Innenministeriums werden in den Jahren 2021 und 2022 insgesamt 24,6 Millionen in die Sicherung der Infrastruktur am Ärmelkanal investiert.

Die Intensivierung der Kontrollen macht die Überfahrten teurer. Da­mien Ca­rême, von 2001 bis 2019 Bürgermeister der kleinen Gemeinde Grande-­Synthe (Arrondissement Dunkerque), der während seiner Amtszeit von den Sozialisten zu den Grünen wechselte, weist darauf hin, dass vor allem die Schlepper von der Aufrüstung der Grenze profitieren: „Die Migranten werden gezwungen, höhere Risiken einzugehen.“ Geflüchtete wurden in Beton­mischern gefunden, oder in Bussen, zusammengepfercht in einem Versteck.

Im Oktober 2019 löste die Entdeckung von 39 toten Viet­na­me­s:in­nen in einem Kühllaster in London großes Entsetzen aus.5 Doch das Drama nimmt kein Ende. Wie gefährlich eine Bootsfahrt über den strömungsreichen und stark frequentierten Ärmelkanal sein kann, zeigte sich zuletzt am 24. November 2021, als 27 Mi­gran­t:in­nen mit dem Schlauchboot kenterten und ertranken.

Fünf Tage nach dieser Tragödie kündigte der französische Innenminister an, den Kampf gegen die Schlepper zu verstärken. Derweil geht die Flucht übers Meer weiter. Laut der britischen Nachrichtenagentur PA Media haben zwischen Anfang Januar und Ende April 2022 schon 6947 Menschen die riskante Flucht über den Ärmel­kanal gewagt. Ein Mensch ist dieses Jahr bereits ums Leben gekommen. Verschiedene NGOs aktualisieren fortdauernd die maka­bre Bilanz: Mehr als 340 Mi­gran­t:in­nen oder nicht identifizierte Personen sind seit 1999 an dieser Grenze gestorben.6

1 „Asylum Statistics“, House of Common Library, 13. September 2021.

2 AFP, 4. Januar 2022.

3 „New plan for immigration, policy statement“, März 2022.

4  „UNHCR Observations on the Nationality and Borders Bill 141, 2021–22“, Oktober 2021.

5 Ein Jahr später verhängte ein Londoner Gericht schwere Haftstrafen gegen die Verantwortlichen, siehe unter anderem Der Spiegel, 22. Januar 2021.

6 Observatoire des migrants morts à Calais.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Élisa Perrigueur ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Élisa Perrigueur