12.11.2020

Bergkarabach – Territorialstreit mit globaler Dimension

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Bergkarabach – Territorialstreit mit globaler Dimension

von Sergei Markedonow

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Der Konflikt im südlichen Kaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan ist nicht neu. Das ethnopolitische Tauziehen um das kleine Gebiet Bergkarabach (4400 Quadratkilometer) war eine der ersten Kraftproben im postsowjetischen Raum. In wenig mehr als drei Jahrzehnten hat sich die Konfrontation zwischen einigen Entitäten der Ex-UdSSR zu einem interna­tio­nalen Kräftemessen mit ungewissem Ausgang entwickelt.1

Die erste Phase (1988–1991) könnte man als internen Streit zwischen zwei Unionsrepubliken bezeichnen. Damals forderte Armenien die Vereinigung (miat­sum) mit Bergkarabach, das heißt die mehrheitlich von Armeniern bewohnte autonome Oblast sollte aus der Sowjetrepublik Aserbaidschan herausgelöst und Armenien zugeschlagen werden. Aserbaidschan hingegen war vor allem daran gelegen, seine territoriale Integrität zu bewahren.

Die sowjetische Staatsführung zögerte, für wen sie Partei ergreifen sollte: Festschreibung des Status quo zugunsten von Baku oder Bestätigung des Anspruchs auf Selbstbestimmung zugunsten von Eriwan? Diese Unentschlossenheit führte zu einer Eskalation der Gewalt. 1988 kam es im aserbaidschanischen Sumgait und 1990 in der Hauptstadt Baku zu Pogromen gegen Armenier. Es folgten Vertreibungen ganzer Bevölkerungsgruppen, die Fronten verhärteten sich.

In der zweiten Phase (1991–1994) brach ein offener bewaffneter Konflikt aus. Zunächst kam es nur zu Kampfhandlungen zwischen der aserbaidschanischen Armee und der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs, die Baku als „Separatisten“ bezeichnete. Mit dem Eintritt der armenischen Streitkräfte 1993 weiteten sich die Kämpfe dann zu einem zwischenstaatlichen Konflikt aus. Bis im Mai 1994 ein unbefristeter Waffenstillstand in Kraft trat, hatten 30 000 Menschen ihr Leben verloren. Die armenischen Streitkräfte und die mit ihr verbündeten Freischärler hatten ihre Kontrolle auf große Teile des umstrittenen Gebiets ausgeweitet (siehe Karte).

Die dritte Phase war von politisch-diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung geprägt. Im Dezember 1994 wurde zu diesem Zweck innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die „Minsk-Gruppe“ gebildet, deren Vorsitz sich Paris, Washington und Moskau teilen. Sie sollten künftig gewährleisten, dass man in dem Friedensprozess vorankam.

Die dritte Phase endete im April 2016 mit dem „Viertagekrieg“. Zum ersten Mal seit dem Waffenstillstand von 1994 bröckelte der Status quo. Der damalige armenische Präsident Serge Sarkissian erkannte den Verlust eines Gebiets von 800 Hektar an. Doch die Kämpfe von 2016 waren nur ein Vorbote der aserbaidschanischen Rückeroberungspolitik, deren Ausmaß heute sichtbar ist.2 Der Verhandlungsspielraum blieb unverändert: Abgesehen vom Informationsaustausch über militärische Zwischenfälle lehnten Baku und Eriwan weiterhin eine umfassende Kompromisslösung ab.

Der Bergkarabach-Konflikt ist nur ein Beispiel in einer langen Reihe festgefahrener Konflikte im postsowjetischen Raum. Nach der Auflösung der UdSSR 1991 forderten mehrere Regionen innerhalb der neu entstandenen Staaten ihr Recht auf Selbstbestimmung oder aber die Angliederung an eine andere Republik. Vor dieser Herausforderung stand nicht nur Aserbaidschan mit Bergkarabach, sondern auch Georgien mit Südossetien und Abchasien sowie Moldawien mit Transnistrien. Auch die zeitverzögert im Jahr 2014 in der Ukraine erfolgten Unabhängigkeitserklärungen der zwei selbsternannten Volksrepubliken im Donbass, Lugansk und Donezk, lassen sich in diesen Fragmentierungsprozess einordnen.

Dennoch ist Bergkarabach ein besonderer Fall: Die „Separatisten“ haben dort nicht nur die Kontrolle über einen Großteil des umstrittenen Gebiets übernommen, das den ehemaligen sowjetischen Grenzen entspricht, sondern auch über sieben an­grenzende aserbaidschanische Provinzen (fünf vollständig und zwei teilweise).

Diese Gebiete, gebirgig und dünn besiedelt, sind strategisch außerordentlich bedeutend. Der Latschin-Korridor verbindet Bergkarabach mit Armenien, in der Provinz Kelbadschar im Norden befinden sich die Quellen, die Bergkarabach mit Wasser speisen. Bevor die Spannungen im Herbst 2020 wieder aufflammten, kontrollierten die armenischen Streitkräfte somit rund 13,4 Prozent des international anerkannten Staatsgebiets von Aserbai­dschan.

Pantürkische Solidarität und russische Zurückhaltung

Die Verhandlungen treten seitdem vor allem in drei Punkten auf der Stelle: beim Status der früheren autonomen Region, beim Ende der Besatzung der Nachbarprovinzen, wie in drei 1993 erlassenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats gefordert, und bei der Einrichtung eines gesicherten Korridors zwischen Bergkarabach und Armenien.

Zu diesen komplizierten Territo­rial­fragen kommt erschwerend hinzu, dass weder die Bevölkerung in Aserbaidschan noch die in Armenien eine Kompromisslösung begrüßen würde. Annäherungen in den Verhandlungen führten häufig zu Regierungskrisen. Der ehemalige armenische Präsident Lewon Ter-Petrosjan etwa musste 1998 zurücktreten, nachdem er einem etappenweisen Friedensplan zugestimmt hatte. Und 1999 legten mehrere hohe Funktionäre um Heydar Aliyev, dem damaligen Präsidenten Aserbaidschans, aus Protest gegen ein Abkommen über einen Gebietstausch ihr Amt nieder, darunter Außenminister Tofik Zulfugarow.

Die Aserbaidschaner leben zwar in einem autoritären Regime, aber sie wissen, wie sie ihre Politiker unter Druck setzen können: Als im Juli 2020 die Spannungen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze wieder zunahmen, zogen Demonstranten vor das Parlament und forderten die Mobilmachung.3

Um seine Legitimität gegenüber den alten Eliten zu festigen, setzt der armenische Premierminister Nikol Pachinjan, der 2018 durch die „samtene Revolution“ an die Macht kam, auf eine kriegerische Rhetorik. So fordert er beispielsweise, dass Vertreter der selbsternannten Republik Bergkarabach am Friedensprozess beteiligt werden sollen. Und bei einem Aufenthalt in Stepanakert zur Eröffnung der panarmenischen Sommerspiele am 6. August 2019 erklärte er, dass Arzach, wie der armenische Name für die Region lautet, Armenien sei.4

Pachinjans harter Kurs hat wohl auch damit zu tun, dass er in den 1990er Jahren nicht an den Kämpfen in Bergkarabach teilgenommen hat. Bislang war dies eine unerlässliche Voraussetzung für jeden, der nach einem Amt an der Staatsspitze strebte.

Die Auseinandersetzungen in diesem Herbst übersteigen das Ausmaß des „Viertagekriegs“ von 2016. Zum ersten Mal fallen Bomben auf die Städte Bergkarabachs – auf die „Hauptstadt“ Stepanakert (Chankendi für die Aserbaidschaner), Schuschi (Schuscha) und Martuni (Khodschawend). Auch auf armenischem Staatsgebiet kam es zu Kämpfen. Zwischenfälle ereigneten sich nahe der Stadt Wardenis in der Provinz Gegharkunik, die nur 80 Kilometer Luftlinie von der Hauptstadt Eriwan entfernt ist.

Die aserbaidschanischen Städte Ganja und Mingetschewir, rund 100 Kilometer vom Kriegsschauplatz entfernt, wurden von armenischen Truppen unter Beschuss genommen. Die Gefahr einer internationalen Ausweitung des Konflikts ist vor allem deshalb größer als je zuvor, da neben Bergkarabach auch die Grenzregion beider Länder betroffen ist.

Hierbei spielt vor allem Ankara eine entscheidende Rolle. Die türkische Unterstützung für Baku im Sinne der pantürkischen Solidarität ist allerdings nicht neu. Bereits 1993 schloss die Türkei ihre Landgrenze zu Armenien. Und unter den Nachbarstaaten oder innerhalb der Minsk-Gruppe gibt es kein Land, das so beharrlich die Interessen Bakus vertritt wie die Türkei.

Als die Feindseligkeiten im September eskalierten, stellte sich die Türkei als einziges Land klar hinter Baku und forderte vor der Aufnahme von Verhandlungen den vollständigen Rückzug der armenischen Streitkräfte nicht nur aus den besetzten aserbaidschanischen Provinzen, sondern auch aus Bergkarabach selbst.5

Bei der aktuellen Eskalation der Gewalt spielen auch von der Türkei re­kru­tierte Kämpfer aus Syrien eine Rolle.6 Die Verstärkung durch Dschihadisten, die am Rande schon in den 1990er Jahren dabei waren, könnte nicht nur Aserbaidschan destabilisieren, wo die muslimische Bevölkerungsmehrheit zu 82 Prozent aus Schiiten und zu 12 Prozent aus Sunniten besteht. Auch die Nachbarstaaten Georgien und die Russische Föderation mit ihren muslimischen Republiken im nördlichen Kaukasus sind davon betroffen.

Im Gegensatz zur Türkei hält sich Russland jedoch eher zurück. Präsident Putin wies darauf hin, dass laut dem bilateralen Sicherheitsabkommen von 1992 Moskaus militärische Unterstützung für Eriwan im Angriffsfall nur für das armenische Staatsgebiet gilt, nicht aber für Bergkarabach. Zwar unternahm der Kreml einen ersten Vermittlungsversuch, indem er die beiden Parteien am 9. Oktober nach Moskau einlud, aber der dort ausgehandelte Waffenstillstand trat niemals in Kraft, ebenso wenig wie ein weiterer vom 18. Oktober.

Warum agiert Russland diesmal so vorsichtig, während es 2008, als Georgien versuchte Südossetien mit Gewalt zurückzuerobern, mit Panzern anrückte? Tatsächlich hat die russische Führung keine einheitliche Strategie entwickelt, um die Konflikte im Kaukasus zu lösen. Sie reagiert eher spontan auf die Entwicklungen vor Ort.

Ein weiterer Unterschied zu der Südossetien-Krise ist, dass sich Baku im Gegensatz zu Tiflis, das sich pro-westlich positioniert hatte, bei der Wiederherstellung seiner territorialen Integrität nicht auf eine antirussische Rhetorik stützt. Aserbaidschan hat nie den Wunsch geäußert, der Nato oder der EU beitreten zu wollen. Es betreibt auch keine Geschichtspolitik mit dem Ziel, die Sowjetära zu verurteilen und den gemeinsamen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazideutschland infrage zu stellen.

Darüber hinaus bestehen zwischen beiden Ländern zahlreiche Kooperationsabkommen, sowohl im Sicherheitsbereich als auch im Energiesektor, bei der Rohstoffgewinnung im Kaspischen Meer und im Verkehrswesen. Der Kreml hat kein Interesse daran, dass sich Aserbaidschan zu einem zweiten Georgien entwickelt, und unternimmt folglich nichts, was Baku auf Konfrontationskurs bringen könnte.

Die Intensivierung der strategischen Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und der Türkei stellt Russland allerdings vor Probleme. Schon jetzt hat Ankara Moskau vorgeschlagen, eine Art „geopolitisches Kondominat“ im Südkaukasus einzurichten, also eine Ausweitung des syrischen Modells eines Interessenausgleichs auf das „nahe Ausland“ Russlands.7

Zu einem Kompromiss scheint Ankara jedoch nicht bereit zu sein. Und der Kreml könnte weder eine Niederlage der einen noch der anderen Partei akzeptieren, erst recht nicht auf direkten Druck der Türkei. Denn damit wäre sowohl Russlands Einfluss im südlichen Kaukasus bedroht als auch die Stabilität seiner Republiken im Nordkaukasus.

Der Konflikt in Bergkarabach ist in Eurasien heute die einzige Frage, bei der die Interessen Russlands und des Westens übereinstimmen. Bislang war es nahezu unvorstellbar, dass Donald Trump, Emmanuel Macron und Wladimir Putin eine gemeinsame Erklärung abgeben könnten, zu welchem Thema auch immer. Doch am 1. Oktober 2020, am fünften Tag der bewaffneten Zusammenstöße in Bergkarabach, unterzeichneten die Präsidenten der USA, Frankreichs und Russlands ein gemeinsames Dokument.8

Ihre gemeinsame Sorge über die dschihadistische Bedrohung sowie das zunehmende Misstrauen in Washington, Paris und Brüssel gegenüber Ankara begünstigen diese Annäherung. Im geopolitischen Poker bekommt der Bergkarabach-Konflikt eine immer größere Bedeutung.

1 Siehe Philippe Descamps, „Nichts ist normal in Karabach“, LMd, Dezember 2012.

2 „War may resume at 'any moment’, Armenian president warns“, Bloomberg Businessweek, New York, 24. April 2016.

3 Lenta.ru, 15. Juli 2020 (auf Russisch).

4 Rosbalt, 8. August 2019 (auf Russisch).

5 „Turkey’s Erdogan says Armenia must withdraw from Azeri lands“, Reuters, 28. September 2020.

6 Siehe Bethan McKernan, „Syrian recruit describes ­role of foreign fighters in Nagorno-Karabakh“, The Guar­dian, 2. Oktober 2020.

7 Eurasia Daily, 30. September 2020 (auf Russisch).

8 „Déclaration conjointe des ministres des affaires étrangères français, russe et américain, coprésidents du groupe de Minsk, appelant à un cessez-le-feu au Haut-Karabakh“, Ministerium für Europa und auswärtige Angelegenheiten, Paris, 5. Oktober 2020.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Sergei Markedonow ist Wissenschaftler am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO).

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Sergei Markedonow