09.08.2018

Pierre, der Genügsame

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Pierre, der Genügsame

In Frankreich füllt ein Ökoguru riesige Säle – er predigt das bescheidene Leben und macht Millionen mit seinen Shows

von Jean-Baptiste Malet

Grace Weaver, bestsellers, 2016, Öl auf Leinwand, 91 x 91 cm Roman März
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Tausend Zuschauer sitzen an diesem 17. Juni 2018 im Kongresspalast von Montpellier und blicken gebannt auf die Leinwand. Unterlegt von bedrohlichen Klängen, strömen Bilder von Staus, Pestizid-Flugzeugen, verschmutzten Stränden, qualmenden Fabriken, überfüllten Supermärkten und einem Eisbär im Todeskampf auf sie ein, bis da nur noch eine rhetorische Frage steht: „Werden wir es endlich begreifen?“ Dann, endlich, kündigt die Moderatorin den Redner an, auf den sie schon die ganze Zeit gewartet haben: „Sie kennen ihn alle. Er ist ein echter Bauer.“

„Ich werde hier keinen Vortrag im üblichen Sinne halten“, beginnt Pierre Rabhi – Spitzbart, kariertes Hemd, Cordhose und Hosenträger. „Ich will von einem Leben berichten, das einzigartig ist, meinem Leben, und diese Erfahrung mit Ihnen teilen.“

Rabhi, der sommers wie winters Sandalen trägt, wirkt wie ein beseelter Asket. Nach ziemlich genau einer Stunde erzählt er die Fabel vom Kolibri, die ihn berühmt gemacht hat: Als im Wald ein Feuer ausbricht, erstarren alle Tiere vor Entsetzen – bis auf den kleinen Kolibri, der mit seinem Schnabel ein paar Tropfen Wasser auffängt, um die Flammen zu bekämpfen. „Kolibri, du bist verrückt!“, sagt da das Gürteltier. „Mit den paar Tropfen wirst du den Brand nicht löschen!“ Doch der Vogel antwortet: „Ich weiß, aber ich trage meinen Teil bei.“ „Folgen Sie dem Kolibri“, fordert Rabhi sein Publikum auf. „Tragen auch Sie Ihren Teil bei.“ Woraufhin sich der ganze Saal erhebt und sehr lange Beifall klatscht.

„Ich habe Pierre Rabhi bestimmt schon zehnmal gehört, er sagt immer das Gleiche, aber ich kann gar nicht genug davon bekommen“, gesteht eine Frau. Ohne den Blick von der Bühne zu wenden, fügt ihre Sitznachbarin hinzu: „Pierre enttäuscht uns nie.“

Die Begeisterung hält auch noch in den Fluren an, wo fliegende Händler Instrumente „zur Reinigung und Aufbereitung von Wasser durch Verwirbelung“ anbieten, Kapseln „zum Schutz und zur Reparatur der DNA“ (für Kuren von drei bis sechs Monaten) oder das neueste Modell eines „Skalarwellengeräts“ (8000 Euro).

Seit über 50 Jahren ist Rabhi mit seiner Lebensgeschichte auf Tour. 1960 habe er eine folgenreiche Entscheidung getroffen, als er „aus Respekt vor der Genügsamkeit zur Erde zurückgekehrt“ sei. Seine Bücher (30 Titel, Gesamtauflage 1 Million1 ) haben eine erstaunliche Wirkung – obwohl dieser Mann nur ein Thema hat (sich selbst), verkörpert er in den Augen seiner Fans vor allem eines: Bescheidenheit. Straßen, Parks, Gemeindezentren und ganze Siedlungen sind nach Rabhi benannt, der 2017 auch noch mit dem Ritterorden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet wurde.

2002 wollte Rabhi sogar Staatspräsident werden. In seiner Wahlkampfbroschüre stand: „Mein eigener Protest, der vor 40 Jahren begann, ist politisch, hat aber nie den Weg der Politik im herkömmlichen Sinne genommen. Mein oberstes Ziel war es, meine Existenz (und die meiner Familie) mit den ökologischen und humanistischen Werten in Einklang zu bringen.“

Statt der nötigen 500 Unterstützerunterschriften bekam er damals nur 184 und konnte deshalb nicht zur Wahl antreten. Die Broschüre präsentiert den Kandidaten als „internationalen Experten für Nahrungssicherheit“ inmitten eines Kornfelds, das Gesicht in goldenes Licht getaucht. Von Nordafrika über Burkina Faso bis in die Cévennen: Rabhis Weg illustriert den Erfolg ebenso wie die Probleme einer Ökobewegung, die sich aus der Politik heraushalten will.

2006 gründete er zusammen mit dem Autor und Regisseur Cyril Dion die „Kolibri-Bewegung“ (Mouvement Colibris), 2012 kam das Magazin Kaizen (der japanische Begriff für „ständige Verbesserung“) hinzu, und 2015 drehte Dion mit der Schauspielerin Mélanie Laurent („Inglou­rious Basterds“) den Dokumentarfilm „Demain“ („Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“), den in Frankreich mehr als 1 Million Zuschauer gesehen haben.

Rabah Rabhi, geboren am 29. Mai 1938 im algerischen Kenadsa (in der Region Saoura), hatte als Vierjähriger seine Mutter verloren und wurde von katholischen Franzosen adoptiert. Die Adoptivmutter war Lehrerin, der Adoptivvater Inge­nieur. Als Jugendlicher, damals noch in der algerischen Stadt Oran lebend, ging er regelmäßig in die Oper, er liebte die „Zauberflöte“ und „Othello“,2 französische Literatur und gut geschnittene Anzüge.

Im Alter von 17 Jahren nahm der glühende Katholik seinen Taufnamen Pierre an. „Ich fühlte mich schuldig, nicht weil ich mich vom Glauben meiner Vorfahren abgewendet hatte, sondern weil ich bei meinen Leuten nicht den Glauben des Gottessohns verbreitete.“ Während des Algerienkriegs „hielt ich meine kleine Trikolore aus dem Autofenster, wenn wir durch die Stadt fuhren, und skandierte: ,Al-gé-rie fran-çai-se‘.“

Ende der 1950er Jahre ging Rabhi nach Paris und arbeitete bei einem Landmaschinenbauer als Lagerist und nicht, wie er im Gespräch klarstellt, „am Fließband“, wie es in seinem Jugendbuch, „L’enfant du désert“ („Kind der Wüste“, 2017) heißt, von dem mehr als 21 000 Exemplare verkauft wurden. In diesem Unternehmen lernte der junge Mann 1960 seine spätere Ehefrau kennen. Im selben Jahr schickte er einen Brief ab, der sein Leben verändern sollte.

Rabhi greift tief in die reaktionäre Mottenkiste

„Monsieur“, schrieb er an den Landarzt und Umweltaktivisten Pierre Richard, „ich habe Ihre Adres­se von Pater Dalmais erhalten, der uns gesagt hat, dass Sie sich für den Schutz der Natur einsetzen, dass Sie aktiv an der Schaffung des Na­tio­nal­parks Vanoise beteiligt waren und nun auch in den Cevennen einen Naturpark ermöglichen wollen. Auch ich bin an all diesen Fragen sehr interessiert und würde gern daran mitwirken, zu der Natur zurückzukehren, die Sie verteidigen.“

Pierre Richard (1918–1968) hatte vor dem Krieg Medizin studiert und war 1940 vorübergehend Ausbilder in einem von der Vichy-Regierung eingerichteten paramilitärischen Ausbildungslager für Jugendliche („Chantier de la jeunesse“) auf dem Mont Aigoual – eine Erfahrung, die ihn anscheinend nachhaltig geprägt hat.3

1951 ließ er sich mit seiner inzwischen siebenköpfigen Familie in Les Vans (Département Ardèche) nieder und bot neben seiner Landarztpraxis kostenlose Kurse in Vor- und Frühgeschichte, Anthropologie und Wirtschaft an. „Nach meiner Ankunft in der Ardèche hat er mich unter seine Fittiche genommen. Er war mein Lehrer“, schreibt Rabhi in seiner Autobiografie.

Kurz darauf lernte der Landwirtschaftslehrling den Schriftsteller Gustave Thibon (1903–2001) kennen, der in Frankreich zu den Vorreitern der Blut-und-Boden-Ideologie gehörte und über den seine Tochter heute sagt: „Nicht mein Vater war Anhänger Pétains, sondern Pétain war Anhänger der Ideen von Thibon.“4

Seine Bewunderer erinnern zwar stets daran, dass Thibon der Philosophin Simone Weil vor ihrer Flucht 1941 Unterschlupf gewährt hat, doch das hat nichts mit seiner politischen Einstellung zu tun. Der strenge Katholik, Royalist und erbitterte Gegner de Gaulles machte regelmäßig gemeinsame Sache mit den Rechtsextremisten und kämpfte für ein französisches Algerien.

Zwischen dem jungen Mann, der zurück zur Natur wollte, und dem konservativen Denker entwickelte sich eine Beziehung, die bis in die 1990er Jahre andauerte. Als ein mit der Scholle „verwurzelter“ bäuerlicher Schriftsteller trat Rabhi in Thibons Fußstapfen. In dem Dörfchen Saint-Marcel-d’Ardèche, wo Thibon lebte, erinnert sich seine langjährige Sekretärin Fran­çoise Chauvin: „­Pierre Rabhi verdankt Gustave Thibon viel. Wenn er hier war, verhielt er sich wie ein Schüler, der seinen Meister besucht.“

60 Jahre später sagt der Schüler, der inzwischen selbst zum Meister geworden ist, über seine Rückkehr aufs Land: „Ich habe schon 1958 die Revolution von 68 gemacht!“ Das geistige Klima der 1960er und 1970er Jahre gefiel ihm gar nicht. Wenn man den Philosophen André Gorz erwähnt, der so wichtige Bücher wie „Ökologie und Politik“ (1975) und „Ökologie und Freiheit“ (1977) verfasst hat, echauffiert sich Rabhi: „Ich habe die existenzialistischen Philosophen immer verabscheut. In den 1960er Jahren gab es unzählige von der Sorte, Menschen, die nur in sozialen Kategorien dachten und Fragen wie ,Warum sind wir auf der Erde?‘ einfach ausblendeten. Aber ich habe schon damals gespürt, dass die Realität nicht nur aus fester Materie besteht und dass es noch etwas anderes gibt.“

Mit der Moderne steht Rabhi auf Kriegsfuß. Auch mit der libertären Naturverbundenheit der Post-68er kann er nichts anfangen. Die Anerkennung der homosexuellen Familie gefährde „die Zukunft der Menschheit, weil diese Beziehung definitionsgemäß unfruchtbar ist“, heißt es in „Semeur d’espoirs“ (2013). Und über die Emanzipation der Frau schreibt er: „Man sollte die Gleichheit nicht so verherrlichen. Ich plädiere vielmehr für Ergänzung: Die Frau soll Frau sein, der Mann Mann, und die Liebe soll sie vereinen.“5

Auch der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861–1925), gehört zu Rabhis intellektuellen Ziehvätern, weil er „interessante Vorschläge zur Landwirtschaft“ gemacht habe. Rabhi, der neben seinen Jobs auf dem Bau und in der Landwirtschaft auch Gedichte verfasste, Romane entwarf und als Bildhauer dilettierte, begann selbst mit biodynamischen Methoden zu experimentieren und bot seit den 1970er Jahren Lehrgänge dazu an. Und wieder verliehen ein Brief und die anschließende Begegnung mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit seiner Geschichte eine neue Wendung.

Maurice Freund, Unternehmer, Abenteurer und Gründer der Charterfluggesellschaft Point Air, eröffnete im Dezember 1983 ein Touristenresort in Gorom-Gorom im äußersten Norden von Burkina Faso. Die Ferienanlage wurde wie ein traditionelles Dorf aufgebaut und sollte vor allem nachhaltig bewirtschaftet werden. Einige Wochen nach der Eröffnung musste Freund jedoch feststellen, dass „den Entwicklungshelfern und Botschaftern, die sich in dieser Oase des Friedens entspannten“, Gänseleberpastete und Champagner serviert wurden.6

Zur gleichen Zeit traf ein Brief von Rabhi ein, der den Unternehmer in die Ardèche einlud. Freund hielt ihn zunächst für einen Bittsteller. Doch Rabhi ließ nicht locker, und Freund reiste tatsächlich in die Ardèche: „Bevor wir nur ein Wort gewechselt hatten, begriff ich, dass Pierre Rabhi unser Retter ist.“ Freund übertrug ihm sofort die Leitung von Gorom-Gorom II, einer Erweiterung der Hotelanlage, wo der Autodidakt den Bauern der Sahelzone den Mondkalender und die biodynamische Landwirtschaft nahebrachte.

Ende 1986 bat Freunds Verein „Le Point Mulhouse“ den Agrarwissenschaftler und Experten für die Sahelzone René Dumont um eine Begutachtung des von Rabhi geleiteten Zentrums. Dumont, selbst ein Umweltschützer, war entsetzt über das, was er sah: „Pierre Rabhi hat den Kompost als eine Art Zaubertrank dargestellt und chemische Düngemittel verboten, aber auch Mist und Gülle. Außerdem erzählte er den Bauern, der Lauf der Sterne und die Mondphasen würden eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft spielen, und propagierte die wissenschaftsfeindlichen Thesen von Steiner, während er gleichzeitig Pasteur verdammte.“

Dumont hielt das für eine Form von Missachtung der Bauern. „Da er zudem eine fragwürdige Einstellung zu den Afrikanern hatte, sahen wir uns veranlasst, zu sagen, was wir davon hielten, sowohl gegenüber der Leitung von Point Mulhouse wie gegenüber den Behörden in Burkina Faso.“7 Zwei Weltbilder prallten da aufeinander, denn für Dumont sind Internationalismus, politische Ökologie und moderne Agrarwissenschaft kein Widerspruch.

Rabhi, der vermeintliche „internationale Experte“ für Landwirtschaftsfragen, hat zwar das Vorwort für das „Handbuch des agrarökologischen Gartenbaus“ (2012) verfasst, aber nie einschlägige Artikel oder gar agrarwissenschaftliche Bücher geschrieben. Was er selbst folgendermaßen begründet: „Durch das Bekenntnis zur Vernunft sind wir zur Herrschaft der Rationalität der angeblichen Aufklärung gelangt, die in Wahrheit eine neue Verblendung gebracht hat, eine moderne Verblendung. Aufklärung ist die vollständige Auslöschung der Vergangenheit, die als unwissenschaftlich gilt“, wettert er auf der Terrasse seines Anwesens in Lablachère. „Der Aufstand des Gewissens, zu dem ich aufrufe, richtet sich gegen dieses globale Paradigma.“

Rabhi will sich nicht damit zufrieden geben, nur für die Schönheit der Natur zu schwärmen. Er benutzt sie vielmehr für seine Rache an der Moderne. Ideologen wie er prangern zwar die „Exzesse des Finanzsystems“, die „Kommerzialisierung des Lebens“, die Ausschweifungen der Mächtigen oder die problematischen Folgen von Wissenschaft und Technik an, predigen aber als einzige Lösung nur den Rückzug von der Welt, statt die bestehenden Machtstrukturen infrage zu stellen.

Tatsächlich sagt Rabhi, „ob reich oder arm, wir sind vollkommen von der Natur abhängig. Der Bezug zur Natur regelt das Leben. Sie sorgt für den richtigen Rhythmus.“8 In „Le Recours à la terre“ (1995) preist er sogar die Armut, die man nicht mit dem „Elend“ gleichsetzen dürfe, und erzählte damals in seinen Lehrgängen, Armut stelle einen „Wert des Wohlbefindens“ dar.

Ein paar Jahre später wurde daraus das Lob der „glücklichen Genügsamkeit“.9 Darin kritisierte er die soziale Absicherung als Luxus. „Viele Menschen profitieren von den sozialen Sicherungssystemen. Aber um immer mehr Menschen absichern zu können, muss man Reichtümer produzieren. Werden wir das lange durchhalten können?“

Man kann sich ungefähr vorstellen, was die Angestellten, die in den Einrichtungen des spitzbärtigen Asketen arbeiten, von einer solchen Einstellung halten. Und seine erkennbare Nachsicht gegenüber multinationalen Konzernen wird vor diesem Hintergrund auch erklärlich.

1994 wurde der Verein Terre et Humanisme unter dem Label „Freunde von Pierre Rabhi“ gegründet. Ein Drittel des Budgets stammt aus Spenden – den Zinsen auf die Finanzprodukte „Agir“, die von der Genossenschaftsbank Crédit coopératif vertrieben werden (mehr als 450 000 Euro jährlich). Der Verein führt die Arbeit fort, die Rabhi in Burkina Faso begonnen hat, mit Lehrgängen in Mali, Senegal und Togo sowie in Frankreich, auf dem Hof Mas de Beaulieu in La­bla­chère, wo 1 Hektar Land biodynamisch bewirtschaftet wird. Zwischen 2004 und 2016 waren dort 2350 Freiwillige, sogenannte VolonTerres, mehrere Wochen im Einsatz.

Freiwillige Helfer graben für die gute Sache die Erde um

Der agrotouristische Bauernhof Amanins in La-Roche-sur-Grane ist 2001 aus der Begegnung von Rabhi mit dem 2012 verstorbenen Unternehmer Michel Valentin entstanden. Valentin hatte 4,5 Millionen Euro aus seinem Privatvermögen in das 55 Hektar große Projekt gesteckt. Um den Obst- und Gemüseanbau kümmern sich zwei Teilzeitkräfte, die von Scharen Zivildienstleistender und Ehrenamtlichen unterstützt werden, den Wwoofers (nach der englischen Bezeichnung World-Wide Opportunities on Organic Farms, Weltweite Möglichkeiten auf Biobauernhöfen, Wwoof).

Die Wwoofers bekommen Kost und Logis und arbeiten dafür fünf Stunden am Tag, ohne dass die Einrichtung Sozialabgaben leisten muss. Doch die Produktion reicht für die Selbstversorgung nicht aus, 20 Prozent des Gemüses müssen zugekauft werden.

„Ich habe erlebt, dass Leute türenschlagend gegangen sind und sich beschwert haben, sie seien ausgebeutet worden“, erzählt Ariane Lespect, die als freiwillige Helferin in Amanins und in Mas de Beaulieu gearbeitet hat. „Meiner Meinung nach haben sie Rabhis Botschaft nicht begriffen. Aus dem System auszubrechen, heißt auch, für etwas anderes zu arbeiten als für ein Gehalt.“

Der bäuerliche Prophet zieht keinen finan­ziel­len Profit aus diesem unentgeltlichen Engagement. Aber seine unerfahrenen Gärtnerlehrlinge, die auf den potemkinschen Bauernhöfen die Erde umgraben, verleihen dem „Gegenmodell“ Rabhi das telegene Aussehen eines wirtschaftlich nachhaltigen biologischen Betriebs – tatsächlich machen die Höfe einen Großteil ihres Umsatzes mit bezahlten Lehrgängen.

Das Mouvement Colibris betreibt keine landwirtschaftlichen Unternehmen, doch der gegenwärtige Direktor Mathieu Labonne koordiniert GreenFriends, das europäische Netzwerk ökologischer Projekte der Organisation Embracing the World, gegründet von dem weiblichen Guru Mata Amritanandamayi, besser bekannt als Amma.10 Ihre Aufgabe ist es, in Ammas französischen Aschrams „ökologische Modelleinrichtungen“ aufzubauen: die Farmen Plessis in Pontgouin im Département Eure-et-Loire und Lou Paradou in Tourves im Département Var.

Laut Geschäftsbericht 2017 hat Embracing the World France mit Sitz auf der Farm Plessis (6 Hektar) mit der Freiwilligenarbeit immerhin 843 710 Euro Gewinn gemacht.11 Und der Verein MAM, der Lou Paradou betreibt (3 Hektar), hat 16 346 „Seva“-Stunden12 angegeben, „eine spirituelle Praxis, die Amma uns besonders ans Herz legt, bewusste, uneigennützige Arbeit, auch tätige Meditation genannt“, wie es auf der Website des Aschrams heißt. „Küche, Gartenarbeit, Haushalt, Bauarbeiten, Nähen – es sind ganz verschiedene Tätigkeiten.“

Zwischen den Netzwerken von Amma und denen von Colibris gibt es häufig Überschneidungen, ob bei Ammas jährlichen Besuchen in Frankreich, auf den Höfen von Embracing the World oder in den Veröffentlichungen von Colibris. 2009 nahm Rabhi an der Sommeruniversität des Arbeitgeberverbands Medef teil, danach traf er sich mit den Chefs von Großunternehmen wie Veolia, HSBC, General Electric, McDonald’s Frankreich, Clarins, Yves Rocher und Weleda, um sie zu „sensibilisieren“. Der Tätigkeitsbericht 2009 des Vereins Colibris verzeichnet die Errichtung eines „Unternehmerlabors Colibris“ für ­Manager auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Inzwischen plagen den einen oder anderen Konzernboss Gewissensbisse. Am 8. Mai 2018, knapp drei Monate nachdem Alexandre Bompard, der Chef von Carrefour, Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro, die Schließung von 273 Geschäften und die Streichung von 2700 Arbeitsplätzen angekündigt hatte, trat Stéphane Coum, Geschäftsführer von Carrefour Italien, auf der Messe Seeds & Chips in Mailand vor ein Publikum aus Journalisten und Unternehmern. Auf der Leinwand tauchte plötzlich ein Zitat mit dem Aufruf zu „planetenweitem Humanismus“ auf und daneben der Mann mit dem beruhigenden Lächeln.

„Vor sechs Jahren habe ich begonnen, Pierre Rabhi zu lesen“, erklärte der Unternehmer. „Damit wir eine Veränderung erreichen, muss jeder seinen Teil beitragen – wie der Kolibri in der Geschichte. Viele wollen heute die Welt verändern, auch Carrefour will das.“ Supermarkt und Umweltschutz verbinden, große Vermögen und asketische Spiritualität: Glückliche Genügsamkeit ist wirklich ein dehnbarer Begriff.

1 Laut der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), Juni 2018.

2 Pierre Rabhi, „Du Sahara aux Cévennes ou La Reconquête du songe“, Lavilledieu (Éditions de Candide) 1983 (Neuausgabe: Albin Michel, Paris 1995). Die folgenden Zitate stammen daraus.

3 Siehe Karine-Larissa Basset, „Richard Pierre (1918–1968)“, http://­ahpne.fr.

4 Aus dem Briefwechsel des Autors mit Philipe Barthelet, Herausgeber von Gustave Thibon, „L’Âge d’homme“, Lausanne (Reihe: Les Dossiers H) 2012. Philippe Pétain war der Chef des mit Nazideutschland kollaborierenden Vichy-Regimes.

5 Pierre Rabhi, „Le féminin est au cœur du changement“, Kaizen, 28. Mai 2018, www.kaizen-magazine.com.

6 Maurice Freund, „Charters interdits. Quinze ans d’aventures pour la liberté du ciel“, Strasbourg (Bueb & Reumaux) 1987.

7 René Dumont, „Un monde intolérable. Le libéralisme en question“, Paris (Seuil, Reihe: L’histoire immédiate) 1988.

8 Pierre Rabhi und Juliette Duquesne, „Les Excès de la finance ou l’art de la prédation légalisée“, Paris (Presses du Châtelet, Reihe: Carnets d’alerte) 2017.

9 Pierre Rabhi, „Vers la sobriété heureuse“, Arles (Actes Sud) 2010, auf Deutsch: „Glückliche Genügsamkeit“, Berlin (Matthes & Seitz) 2015.

10 Siehe Jean-Baptiste Malet, „Die große Umarmung. Die Inderin Amma ist ein Guru mit globaler Anhängerschaft und besten politischen Beziehungen“, LMd, November 2016.

11 „Rapport du commissaire aux comptes sur les comptes annuels – Exercice clos le 31 décembre 2017“, Verein Embracing the World – PKF Audit Conseil, 22. Juni 2018, www.journal-officiel.gouv.fr.

12 „Rapport du commissaire aux comptes sur les comptes annuels – Exercice clos le 31 décembre 2017“, MAM-PFK Audit Conseil, 16. Mai 2018, www.journal-officiel.gouv.fr.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Jean-Batiste Malet ist Journalist und Autor von „L’Empire de l’or rouge. Enquête sur la tomate d’industrie“, Paris (Fayard) 2017.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2018, von Jean-Baptiste Malet