09.02.2017

Was brauchen wir?

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Was brauchen wir?

von Razmig Keucheyan

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Mit dem ökologischen Wandel werden die Menschen nicht darum herumkommen, ihr Konsumverhalten zu ändern. Aber wie lassen sich legitime Bedürfnisse, die auch in einer Gesellschaft der Zukunft befriedigt werden können, von den egoistischen und unvernünftigen Bedürfnissen unterscheiden, auf deren Befriedigung wir wohl oder übel werden verzichten müssen?

Dieser Frage geht das von Energieexperten verfasste „Manifeste négaWatt“1 nach. Ein Negawatt ist die Einheit für eingesparte Energie – „nega“ steht für negativ. Dank erneuerbarer Energien, Wärmedämmung und kürzerer Wirtschaftskreisläufe ließe sich, so die Autoren des Manifests, ein ökologisches Wirtschaftssystem entwickeln, das auf nationaler wie internationaler Ebene umsetzbar wäre. Wenn die technologische Entwicklung weitergeht wie bisher, können erhebliche Negawatt­reserven, die in unseren Gesellschaften schlummern, gehoben werden.

Der gegenwärtige Konsumismus hat keine Zukunft, weil er mit dem steigenden Verbrauch endlicher Ressourcen einhergeht und darüber hinaus für die Menschen nachweisliche Entfremdungseffekte hat. Eine „Negawatt“-Gesellschaft wäre eine, die bestimmte Konsummöglichkeiten bewusst als schädlich ablehnt. Die Autoren des Manifests unterscheiden zwischen authentischen, legitimen Bedürfnissen und künstlichen, illegitimen. Die einen sind lebensnotwendig, wesentlich, nützlich und angemessen; die anderen bezeichnet das Manifest als nebensächlich, unsinnig, extravagant, inakzeptabel oder egoistisch.

Aber wie definiert man ein wesentliches Bedürfnis? Worin besteht der Unterschied zu einem nebensächlichen oder inakzeptablen? Und wer entscheidet das? Welche Mechanismen oder Institutionen wären befugt zu sagen, ob dieses Bedürfnis eher zu befriedigen ist als jenes?

Mit solchen Fragen haben sich der 2007 verstorbene französische Sozialphilosoph André Gorz und die ungarische Philosophin Ágnes Heller auseinandergesetzt. Beide haben in den 1960er und 1970er Jahren eine ausgefeilte und hochaktuelle Bedürfnis­theo­rie entwickelt2 und sind dabei von Überlegungen zur Entfremdung ausgegangen, die sich an den authentischen Bedürfnissen messen lasse. Entfremdung bezeichnet den Prozess, durch den der Kapitalismus künstliche Bedürfnisse weckt, die uns von einem Idealzustand, zu dem wir zurückkehren oder den wir endlich erreichen wollen, entfernt. Diese Bedürfnisse sind nicht nur entfremdend, sondern auf lange Sicht zumeist auch ökologisch unrealistisch.

„Authentische“ Bedürfnisse dagegen sind Notwendigkeiten, von denen das körperliche Überleben oder Wohlbefinden abhängt: essen, trinken, sich vor Kälte schützen. Über andere hat man früher noch gar nicht nachgedacht: saubere Luft zum Beispiel. Oder Schlaf, da die ewige Helligkeit in den Städten die Produktion des Schlafhormons Melatonin hemmt.3 Auch die Lärmverschmutzung ist für viele Bürger ein Problem.

Authentische oder künstliche Bedürfnisse

Nicht alle „authentischen“ Bedürfnisse sind biologischer Art. Lieben und geliebt werden, sich bilden, autonom und kreativ sein, praktisch oder geistig; am Leben der Gemeinschaft teilnehmen, die Natur erfahren . . . Rein körperlich kommt man sicherlich ohne das alles aus, und doch ist es Bestandteil eines lebenswerten menschlichen Lebens. André Gorz spricht von „qualitativen Bedürfnissen“, Ágnes Heller nennt sie „radikale Bedürfnisse“.

Sie beruhen auf einem Paradox. Der Kapitalismus beutet aus und entfremdet, schafft aber zugleich einen gewissen materiellen Wohlstand und befreit somit viele Menschen vom alltäglichen Kampf ums Überleben. Dadurch werden andere, qualitative Bedürfnisse wichtiger. Aber je mächtiger der Kapitalismus wird, desto mehr behindert er deren volle Befriedigung.

Die Arbeitsteilung legt die Individuen auf bestimmte Funktionen und Kompetenzen fest, hindert sie also daran, sich mit all ihren denkbaren Fähigkeiten frei zu entfalten. Der Konsumismus begräbt die authentischen Bedürfnisse unter den künstlichen. Nur selten befriedigt der Kauf einer Ware ein echtes Bedürfnis. Er verschafft kurzzeitige Befriedigung, dann richtet sich das durch die Ware überhaupt erst erzeugte Verlangen auf ein anderes Schaufenster.

Die authentischen Bedürfnisse, die unser Leben kennzeichnen, lassen sich im gegenwärtigen Wirtschaftssystem nicht befriedigen – und werden deshalb zum Nährboden von Emanzipa­tions­bewegungen. „Das Bedürfnis ist im Keim revolutionär“, sagt André Gorz.4 Der Drang nach seiner Befriedigung bringe die Menschen früher oder später dazu, das System, in dem sie leben, kritisch zu betrachten.

Die qualitativen Bedürfnisse entwickeln sich mit der Zeit weiter. Durch Reisen kann sich das Individuum zum Beispiel bilden und dem Andersartigen öffnen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts ging nur die Oberschicht auf Reisen. Dann demokratisierte sich der Tourismus. Billigflüge machen nun das Reisen für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich, aber sie schaden mit ihrem hohen Ausstoß an Treibhausgasen der Umwelt und zerstören das Gleichgewicht in den Tourismusregionen. Und am Ende sehen sich die Touristen gegenseitig dabei zu, wie sie touristische Attraktionen betrachten.

Der Besitz eines Smartphones folgt heute eher einem egoistischen Bedürfnis. Handys enthalten die sogenannten Blutmineralien – vor allem Wolfram, Tantal, Zinn und Gold –, deren Gewinnung bewaffnete Konflikte und schwere Umweltschäden verursacht. Das Handy selbst ist aber nicht das Problem. Nachhaltig produzierte „Fair­phones“5 könnten für die Gesellschaft der Zukunft durchaus nützlich und wichtig sein, zumal sie den Zugang zu sozialen Netzen garantieren oder Bildfunktionen neue Formen der Gemeinsamkeit ermöglichen. Insofern könnte sich auch das Smartphone, wie zuvor das Reisen, zunehmend zu einem qualitativen Bedürfnis entwickeln.

Für André Gorz lautete die Devise der kapitalistischen Gesellschaft: „Was für alle gut ist, ist nichts wert. Du bist erst anerkannt, wenn du ‚etwas Besseres‘ hast als die anderen.“6 Man kann dem einen ökologischen Leitsatz entgegenhalten: „Deiner würdig ist nur das, was für alle gut ist. Produziert zu werden verdient nur, was niemanden privilegiert oder benachteiligt.“ Für Gorz besteht die Besonderheit von qualitativen Bedürfnissen darin, dass sie nicht der Distinktion dienen.

Im Klassenkampf der Dinge

Konsumieren hat im Kapitalismus eine Dimension der Selbstdarstellung. Wer das neueste Automodell kauft, will einen – realen oder vermuteten – sozialen Status zur Schau stellen. Wenn das Modell irgendwann unmodern wird, schwindet seine Distinktionskraft, und das Bedürfnis nach dem nächsten Kauf wächst. Diese der Marktwirtschaft eigene Flucht nach vorn zwingt die konkurrierenden Unternehmen, immer neue Waren zu produzieren.

Dieser fatale Kreislauf ließe sich durchbrechen, wenn die Lebensdauer der Dinge verlängert würde. Die Umweltschutzorganisation Freunde der Erde forderte in einer Petition, dass die laut EU-Richtlinie geltende zweijährige Garantiepflicht auf zehn Jahre verlängert wird. Mehr als 80 Prozent der Waren, für die eine Garantievereinbarung gilt, werden repariert.

Nach Ablauf der Garantiezeit sinkt diese Quote auf unter 40 Prozent. Fazit: Je länger die Garantie währt, desto länger halten die Dinge und desto mehr reduziert sich die Menge der verkauften, also produzierten Waren. Der oft auf dem Neuheitseffekt beruhende Distinktionsgewinn geht zurück. Garantie ist die Anwendung des Klassenkampfs auf die Lebensdauer der Dinge.

Wer legt aber fest, ob ein Bedürfnis legitim ist oder nicht? Hier droht das, was Ágnes Heller die „Bedürfnisdiktatur“7 nennt, wie sie in der UdSSR herrschte. Eine Bürokratie selbsternannter Experten, die bestimmen, was authentische Bedürfnisse sind, und damit über Produktion und Konsum entscheiden, wird kaum zu vernünftigen und legitimen Ergebnissen kommen, die auch in der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen. Eine Liste authentischer Bedürfnisse lässt sich nicht einfach aufstellen, sie verlangt eine ständige kollektive Diskussion. Wir bräuchten also so etwas wie einen basisdemokratischen Mechanismus, über den die vernünftigen Bedürfnisse ausfindig gemacht werden.

Schwer vorstellbar, wie ein solcher Mechanismus aussehen könnte – ihn zu entwickeln ist eine dringende Aufgabe unserer Zeit. Die Gestaltung einer gerechten und lebenswerten Gesellschaft hängt davon ab. Auch der Staat muss aktiv beitragen: Indem er etwa Luxusgüter höher besteuert, um damit den freien Eintritt in die Museen zu finanzieren, nimmt er Einfluss auf die Entscheidung der Konsumenten. Doch diese müssten zuvor von der Nutzlosigkeit zahlreicher Bedürfnisse überzeugt sein. Es muss gelingen, die Konsumenten aus ihrer Zweisamkeit mit der Ware zu befreien und die libido consumandi auf andere Bedürfnisse zu lenken.

1 Association négaWatt, „Manifeste négaWatt. En route pour la transition énergétique!“, Arles (­Actes Sud) 2015.

2 André Gorz, „Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“, Frankfurt am Main (Europäische Verlagsanstalt) 1967; und Ágnes Heller, „Theorie der Bedürfnisse bei Marx“, Berlin (VSA-Verlag) 1976.

3 Siehe Marc Lettau, „In der erleuchteten Schweiz erwachen die Freunde der Dunkelheit“, Schweizer Revue, Bern, Oktober 2016.

4 André Gorz, „La Morale de l’histoire“, Paris (Éditions du Seuil) 1959.

5 Siehe Emmanuel Raoul, „Smart und schmutzig“, Le Monde diplomatique, März 2016.

6 Siehe André Gorz, „Leur écologie et la nôtre“, Le ­Monde diplomatique, April 2010.

7 Siehe Ferenc Feher, Ágnes Heller und György Markus, „Der sowjetische Weg, Bedürfnisdiktatur und entfremdeter Alltag“, Hamburg (VSA-Verlag) 1983.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Razmig Keucheyan ist Professor für Soziologie und Autor von: „La nature est un champ de bataille“, Paris (Zones) 2014.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2017, von Razmig Keucheyan