08.12.2022

Die koreanische Welle

zurück

Die koreanische Welle

von Maya Jaggi

Durch die Serie „Itaewon Class“ ist der Ort der Massenpanik vom 22. Oktober weltbekannt © Netflix/picture alliance/Everett Collection
Audio: Artikel vorlesen lassen

Mehr als 150 junge Leute starben, als im Oktober bei einer Halloween-Party im Ausgehviertel Itaewon in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul eine Massenpanik ausbrach. Millionen Menschen weltweit kannten die engen Gassen und Bars aus der Netflixserie „Itaewon Class“. Sie war 2020 ein Hit und steht stellvertretend für die Beliebtheit der südkoreanischen Popkultur, die seit den späten 1990er Jahren als koreanische Welle oder Hallyu bekannt ist.

Die Begeisterung für K-Drama und K-Pop verbreitete sich über die Kontinente. Die Boygroup BTS, die Band mit den höchsten Verkaufszahlen der Welt, hat der südkoreanischen Wirtschaft bis heute 4,65 Milliarden Dollar eingebracht. Sogar US-Präsident Joe Biden ließ sich im Juni vor dem Weißen Haus mit den Musikern fotografieren.

Der Einfluss koreanischer Kultur wächst überall, von den traditionellen Hanbok-Trachten über Kimchi (fermentierter Kohl) bis zu koreanischen Sprachkursen im Ausland. Im vergangenen Jahr wurden dem Oxford English Dictionary 26 koreanische Wörter hinzugefügt. Südkorea liegt auf Platz 11 des Global Soft Power Index, der die kulturelle Attraktivität der Länder misst. Dank ihrer Soft Power können kleine, aber innovative Länder in der Liga der Großen mitspielen. Laut dem Politologen Joseph Nye, der den Ausdruck „Soft Power“ prägte, ist „Verführung immer wirkungsvoller als Zwang“.

Die K-Welle ist dabei nicht nur eine Herausforderung für die weltweite kulturelle Vorherrschaft des Westens und insbesondere der USA. Die jüngste Neuauflage von „Itaewon Class“ in Japan bestätigt, dass selbst die ehemalige Kolonialmacht (1905–1945) – bekannt für ihre Voreingenommenheit gegen die Koreaner – im Bann eines neuen Brandings steht: „Cool Korea“.

Wie kam es zu diesem globalen Triumphzug? Ein entscheidender Moment war „Gangnam Style“, das K-Pop-Video des Sängers PSY aus dem Jahr 2012. In diesem Clip macht sich der Musiker auf ansteckende Weise über diejenigen lustig, die gern bei den Reichen in Seouls schillernder Südstadt dazugehören wollen.

Mit Horse-trot-Tanzschritten und respektlosem Humor war „Gangnam Style“ das erste Musikvideo, das die Schwelle von 1 Milliarde Klicks bei You­tube überschritt. Ein weiterer Impuls war der Film „Parasite“ von Bong Joon-ho (2019) – der erste koreanische Film, der in Cannes die Goldene Palme gewann, und der erste nichtenglischsprachige Film, der den Oscar für den besten Film erhielt.

In Hallyu spiegelt sich auch eine Mischkultur, die auf rivalisierende Einflusssphären zurückzuführen ist. Japan präsentierte sich stets als das Land, das Korea die Moderne brachte, verbot als Kolonialmacht aber neben amerikanischer Musik und Filmen auch das Koreanische als offizielle Sprache.

Von 1945 bis in die späten 1990er Jahre blieben wiederum japanische Kulturimporte in Korea verboten, während die amerikanische Popkultur das Land zunächst stark prägte. Während der Diktatur von 1961 bis 1987 war es mit dieser Öffnung erst mal vorbei. Die schnelle, exportgetriebene In­dus­tria­lisierung am Han-Fluss war begleitet von kulturellem Protektionismus und Zensur. Lange Haare und Miniröcke waren bis 1971 verboten, künstlerische Freiheit wurde massiv unterdrückt.

Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul präsentierte sich Südkorea wieder als Demokratie. Doch die Beteiligung der USA an der brutalen Niederschlagung der Studenten- und Arbeiterproteste beim Gwangju-Aufstand 1980 blieb in Erinnerung und schürte eine antiamerikanische Stimmung. Im Zusammenspiel mit dem Widerwillen gegen die Flut japanischer Kulturimporte Ende der 1990er Jahre könnte diese Amerikafeindlichkeit ein entscheidender Faktor für den Aufstieg Südkoreas zur Kulturmacht gewesen sein.

Webtoons und Gangnam Style

„Die koreanische Welle wurde nicht von der Regierung geschaffen“, versicherte 2014 Südkoreas Kulturminister Yoo Jin Ryong. „Sie wuchs organisch.“ Musik und Schauspiel nahmen ihren Aufschwung ab 1987, als die Zensur aufgehoben wurde. Die erste Zivilregierung seit 30 Jahren unter Kim Young Sam registrierte aufmerksam, dass die Ticketverkäufe aus „Jurassic Park“ von Steven Spielberg 1994 mehr einbrachten als der Verkauf von 1,5 Millionen Hyundais.

Als die koreanische Wirtschaft im Zuge der asiatischen Finanzkrise 1997 einbrach, entschied sein Nachfolger Kim Dae Jung mit Blick auf die Erlöse aus Hollywoodfilmen und britischen Bühnenmusicals, künftig weniger Elektronik und Autos zu fördern, dafür aber die Popkultur. Gemeinsam mit dem Engagement familiengeführter Chae­bol-­Konzerne und privater Investoren führten die Regierungshilfen zu einer Renaissance des Films. Landesweit überstiegen die Einnahmen aus dem koreanischen Film „Shiri“ (1999) diejenigen aus „Titanic“.

Der wichtigste Beitrag der Regierung war möglicherweise ihre Offenheit für neue Technologien. Aus der Überzeugung, dass Koreas zögerlicher Einstieg ins industrielle Zeitalter die Kolonialisierung durch Japan begünstigt hatte, konzentrierten sich die Regierungen bewusst auf die Informations- und Kommunikationstechnologie und machten die koreanische Gesellschaft zu einem Musterbeispiel der Digitalisierung. Schon 2010 hatten die meisten Haushalte einen Breitbandanschluss.

Technologische Neuerungen verliehen Koreas Kulturexporten einen Wettbewerbsvorteil. Die Superhelden Hollywoods wurden noch im Comicheft-Zeitalter geschaffen. Die Webtoons (koreanische digitale Comics) wurden hingegen zum Scrollen auf dem Handy entworfen. Aus ihnen gingen erfolgreiche K-Drama-Serien hervor.

K-Schauspiel und -Film verbreiteten sich Mitte der 2000er Jahre über Streaming-Plattformen in aller Welt. „Squid Game“ (2021), eine Serie über soziale Ungerechtigkeit, erreichte bei Netflix die höchsten jemals registrierten Zuschauerzahlen und war mit Einschaltquoten von über 140 Millionen Haushalten die erste nicht englischsprachige Serie an der Spitze der internationalen Charts.

Beim internationalen Erfolg des K-Pop spielte das Unternehmen SM Entertainment eine wichtige Rolle. Es wurde 1989 von Lee Soo Man, dem Produzenten der ersten Superstar-K-Pop-Gruppe H.O.T., gegründet. Lee hatte den Aufstieg von MTV in den USA verfolgt und wollte K-Pop mithilfe von „Culture Technology“ zum weltweiten Durchbruch verhelfen. Sein ausgeklügeltes System aus Casting, Training und Management für die großen Stars verglich er selbst mit der perfektionierten Töpferkunst der Joseon-Dynastie.

Mitte der 2000er Jahre eroberte K-Pop über Smartphones und die sozialen Medien eine weltweite Fangemeinde. Es entstand ein neues Paradigma: „Bringst du der Welt Kultur, wird der wirtschaftliche Wohlstand folgen.“ Dieser Leitspruch kehrt die westliche Geschichtsschreibung um, nach der Reichtum und Staatenbildung Voraussetzung für kulturelle Vorherrschaft sind.

Zu den Schattenseiten der Popkultur gehört das zwiespältige Verhältnis zum Ruhm. Frauen und minderjährige Mädchen (manche Idole beginnen als Elfjährige) stellen zur Schau, was die Schriftstellerin Mariam Elba „infantilisierte Niedlichkeit“ nannte. „Augmented reality“ ermöglichte die Entstehung der „ersten Metaversum-Gruppe“ ­Aespa, deren Girlbandstars neben Avataren auftreten.

In ihrem Buch „Make, Break, Remix: The Rise of K-Style“ (2022) urteilt Fiona Bae, der vielschichtige K-Style sei von einem „rebellischen Geist“ durchdrungen und mische verschiedene Strömungen zu einer „neuen Authentizität“. Und Ramon Pacheco Pardo verkündet in „Shrimp to Whale: South Korea from the Forgotten War to K-Pop“ (2022), Hallyu habe in Korea sowohl liberale Werte als auch den Stolz auf die eigenen Wurzeln gefördert.

Doch die koreanische Welle, deren Attraktivität zum Teil darin liegt, dass sie eine Alternative zur dominanten westlichen Kultur bietet, hat in einigen südostasiatischen Staaten selbst eine Gegenbewegung ausgelöst.

Angesichts ihrer Vielfalt – von der Kapitalismuskritik wie in „Parasite“ bis zu Lippenstiftmarken – ist es befremdlich, wenn man sie unter einem Label zusammenfassen will. Entsprechend merkwürdig war es, als Präsident Moon Jae In 2017 verkündete, die Mitgliederzahl im internationalen Hallyu-Fan-Club auf 100 Millionen steigern zu wollen. Dieses Ziel wurde bereits 2020 übertroffen.

Die Coronapandemie konnte der ­K-Kultur nicht viel anhaben, denn sie war bereits innovativ und im Internet weit verbreitet. Aber jetzt, da die Jugendlichen mit der virtuellen Isolation kämpfen und wir immer tiefer in ein Schönes Neues Metaversum hineingezogen werden, erscheint die Parodie von PSY vor zehn Jahren wie ein Zeitalter der Unschuld.

Vor diesem Hintergrund sollte es nicht nur um die Frage gehen, wie die kulturelle Welle aufrechterhalten werden kann, sondern auch darum, in welche Richtung sie als Nächstes schwappt.

Aus dem Englischen von Birgit Bayerlein

Maya Jaggi ist Schriftstellerin, Kritikerin und Cultural Consultant in London.

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Maya Jaggi