07.04.2022

Selektives Willkommen

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Selektives Willkommen

von Benoît Breville

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Was für ein Kontrast! Kostenlose Zugtickets, voller Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem, sofortiger Schulbesuch für die Kinder, Arbeitserlaubnis für die Erwachsenen: Von Polen bis Frankreich, von Dänemark bis Ungarn scheuen die Regierungen keine Kosten, um ukrainische Flüchtlinge würdig aufzunehmen. Und niemand nimmt daran Anstoß, nicht einmal die Parteien, die normalerweise eine Politik der „Null-Einwanderung“ propagieren.

„Ich sage es unmissverständlich. Es ist eine Ehre für Frankreich, sich an der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge zu beteiligen. Ich bin dazu bereit, und ich glaube, die Franzosen sind es auch“, verkündete Marine Le Pen, die Vorsitzende des Rassemblement Na­tio­nal, am 5. März. Und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán rechtfertigte die plötzliche Gastfreundschaft mit folgenden Sätzen: „Wir wissen um den Unterschied zwischen einem Migranten und einem Flüchtling. Migranten halten wir auf. Flüchtlinge bekommen von uns alle Hilfe, die sie brauchen.“

Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Eritrea oder dem Sudan dürften ihren Ohren nicht getraut haben. Auch sie sind aus Regionen geflohen, wo Krieg herrscht. Doch haben sie eher die Alarmsirenen der Frontex-Patrouillen im Ohr und das Gezeter über eine angebliche „Invasion“.

Das Lächeln der Rechtsextremen gilt nicht ihnen. Und Brüssel hat ihnen keinen „vorübergehenden Schutz“ angeboten, der in der „Massenzustromrichtlinie“ von 2001 vorgesehen ist, aber vor dem Ukrainekrieg noch nie zur Anwendung kam.

Auch die französische Regierung hat sich damals keine Plattform wie „Je m’engage pour l’Ukraine“ ausgedacht, auf der man mit ein paar Klicks einen Schlafplatz anbieten oder Geld spenden kann. Wer in der EU Asyl bekommen will, sollte besser christlich, weiß und vor Putin geflohen sein.

Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein zwischen dem 24. Februar und dem 31. März kamen mehr als 4 Millionen ukrainische Flüchtlinge in die EU. In nur fünf Wochen sind das über dreimal so viele Menschen, wie die Union zwischen 2014 und 2016 aus Syrien aufgenommen hat.

Damals warnten Kommentatoren und Politiker vor einer Überlastung und auf dem alten Kontinent brach regelrecht Panik aus. Diesmal bleibt die Panik aus. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf spielt das Thema kaum eine Rolle – man stelle sich vor, Millionen von Syrern wären nur wenige Wochen vor der Wahl in Europa eingetroffen.

Beim Thema Immigration hängt die öffentliche Wahrnehmung stark vom Handeln der politisch Verantwortlichen ab. Die Soziologin Karine Meslin hat anhand der asiatischen Boat People der 1970er und 1980er Jahre analysiert, wie eine staatlich organisierte Flüchtlingshilfe dazu beiträgt, „den Blick auf die Migranten zu formen und ihre Ankunft zu legitimieren“. Je engagierter die Politik die Aufnahme betreibt, desto höher steht der „Wert der Ausländer“ im Kurs, denen dieser Empfang zuteil wird. Wie wahr das ist, bestätigt sich am aktuellen Beispiel der ukrainischen Flüchtlinge.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Benoît Breville