10.03.2022

Das Kriegsparadox

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Das Kriegsparadox

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Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen. Der von Präsident Wladimir Putin formulierte Vorwand für die Invasion – einen Völkermord zu verhindern – ist abstrus. Und dass es in der Ukraine Nazis gibt, mag zwar stimmen, ist aber mit Bedacht übertrieben. Allerdings hat Moskau seit Jahren immer seinen Befürchtungen Ausdruck verliehen, die Nato könnte sich an seiner Haustür festsetzen, entgegen den Versprechungen der USA zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion.

Dieser Bruch eines Versprechens durch den Westen war ein großer Fehler, ja, eine Provokation. Die Nato hat ihre Daseinsberechtigung 1991 verloren und hätte sich schon lange auflösen sollen. Stattdessen diente sie weiter als Instrument zur Unterordnung Europas unter US-amerikanische Interessen.

Das Paradoxe an dem von Putin begonnenen Krieg ist, dass er zu einer Stärkung des westlichen Militärbündnisses in unmittelbarer Nachbarschaft seines Landes führen wird. Es ist allerdings moralisch völlig inakzeptabel, die Bevölkerung der Ukraine, nur weil sie sich nicht dagegen wehren kann, den Preis für die krummen Absichten der US-Supermacht zahlen zu lassen.

Man kann den Überfall Russlands auf die Ukraine mit der illegalen US-Invasion im Irak 2003 vergleichen, die ebenfalls auf der Grundlage lügen­hafter Propaganda stattfand. Und ebenso wie damals wird nun ein neues, besonders gefährliches Kapitel der internationalen Beziehungen aufgeschlagen. Der Krieg wird anhaltende negative Effekte auf das politische Leben und die Wirtschaft der ganzen Welt haben.

Die von der EU und den USA verhängten Sanktionen dürften den Kreml kaum beeindrucken und noch weniger das russische Volk gegen den Kreml aufwiegeln. Im Übrigen haben die, die heute Sanktionen verhängen, sich um das Völkerrecht und das Selbstbestimmungsrecht wenig gekümmert, als sie selbst die Aggressoren waren (Irak, Libyen) oder den Aggressor unterstützt und bewaffnet haben (Gaza, Jemen).

Die finanziellen und energiepolitischen Konsequenzen der Sanktionen werden nicht auf Russland beschränkt bleiben, sondern auch Staaten treffen, die auf Importe aus Russland angewiesen sind. Und wenn sich die Reihe von Vergeltungsmaßnahmen des Westens in einer Logik ständiger Eskalation fortsetzt und die EU auf die Position ihrer russlandkri­tischsten Mitglieder einschwenkt, wenn außerdem Präsident Biden bei seinen Entscheidungen auf die Falken im US-Kongress hört – dann kann das zur Bildung einer russisch-chinesischen Allianz führen, die den westlichen Interessen diametral entgegensteht.

Es besteht außerdem die Gefahr, dass die ökologischen und sozialen Dringlichkeiten in den Hintergrund treten. Zugleich wird dieser Krieg in Europa dazu dienen, eine massive Ausweitung der Rüstungsausgaben vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Sie steigen in manchen Ländern seit Jahren. Die UN sind handlungsunfähig – und so wird die Weltordnung mehr denn je von vollendeten Tatsachen, Drohungen und bewaffneten Aggressionen geprägt. Und niemand kann vorher­sagen, wo die Eskalation enden wird.

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022