13.01.2022

Vorwärts und alles vergessen

zurück

Vorwärts und alles vergessen

von Pierre Rimbert

Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Kosten für Luftfracht explodierten. Lieferungen verzögerten sich um Wochen oder Monate. Es gab Engpässe bei elektronischen Komponenten und Medikamenten, bei Holz, Papier und sogar bei Cornflakes.

Mehr als 55 Prozent der französischen und über 75 Prozent der deutschen Unternehmen meldeten Lieferschwierigkeiten. Die Einschränkungen aufgrund der Pandemie haben die sensible Infrastruktur des Welthandels durcheinandergebracht. In den letzten 30 Jahren wurden, um möglichst viel Produktion in Länder mit niedrigen Arbeitskosten zu verlagern, globale Lieferketten aufgebaut. Jetzt sind sie gerissen.

Die Pandemie bringt die Wahrheit über den Freihandel ans Licht: Im Krisenfall stehen alle allein da. Ohne Reagenzien keine Tests, ohne Chemieindustrie keine Reagenzien und keine Impfstoffe für Afrika.

Seit 2008 erleben wir immer wieder neue Schocks, wirtschaftliche und klimatische, gesundheitliche und soziale. Jetzt plötzlich denken die Staaten darüber nach, zentrale Produktionsbereiche zurückzuverlagern.

Doch der bloße Gedanke daran geht der Welthandelsorganisation (WTO), die dieses Chaosorchester dirigiert, bereits zu weit. Ihr jüngster Bericht zur Lage des Welthandels („Economic ­resilience and trade“) klingt wie eine Zurechtweisung in drei Lektionen.

Lektion 1: Die heutige eng vernetzte Weltwirtschaft hat die Welt für Schocks anfälliger, aber auch widerstandsfähiger gemacht.

Lektion 2: Politische Strategien, die auf Rückbau der Handelsverflechtungen setzen – etwa mittels Produktionsverlagerungen oder stärkere Selbstversorgung –, können im Gegenteil die wirtschaftliche Resilienz schwächen.

Lektion 3: Durch mehr globale Zusammenarbeit wird die ökonomische Resilienz gestärkt.

Beunruhigend ist dabei, dass das Wort „Resilienz“ auf 212 Seiten ­738-mal auftaucht. Will man uns auf diese Weise einhämmern, dass ein System, das einst als Abhilfe gegen die sowjetische Mangelwirtschaft angepriesen wurde, am Ende aber keine Toaster zu liefern vermag, nach dem sound­sovielten Versagen doch immer wieder auf die Beine kommt?

Die Ökonomen der Welthandelsorganisation (WTO), meist Absolventen der renommiertesten Wirtschaftsfakultäten dieser Erde, leiern uns immer wieder dasselbe vor: Ein Schock mag den Freihandel aus dem Tritt bringen, aber Produktion zurückzuverlagern würde die Sache noch schlimmer machen. Nur ein vollends entfesselter Handel und noch mehr internationale Zusammenarbeit weist uns – aufgrund der größeren Resilienz – den Weg ins Glück.

Wie sagte schon der Vorsitzende Mao Tse-tung? „Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet.“ ⇥Pierre Rimbert

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Pierre Rimbert