14.06.1996

Forderungen an Dritte

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Forderungen an Dritte

DIE Hundertjahrfeier des Gewerkschaftsbundes Confédération générale du travail (CGT) wurde letztes Jahr wesentlich bescheidener begangen als, zur gleichen Zeit, der hundertste Geburtstag des Kinos. Zeugt diese Zurückhaltung von einer Feindlichkeit der französischen Medien gegenüber der Arbeiterbewegung? Oder erklärt sie sich eher durch das Schwinden der Mitgliederzahlen der CGT? Das Buch von Michel Dreyfus1 ist jedenfalls ein Versuch, die Schwäche der französischen Gewerkschaftsbewegung zu erklären.

Die Kenntnis der Geschichte hilft kaum weiter. Vor sechzig Jahren, kurz nach den großen Streiks vom Juni 1936 – an die Danielle Tartakowsky in einem soeben erschienenen wunderbaren kleinen Buch erinnert2 –, hatte allein der Metallarbeiterverband mehr Mitglieder (750000) als heute der ganze Bund. Wenn man also die schwindende Mitgliederzahl auf die „Politisierung“ der CGT zurückführen will, kann man eine solch hohe Mitgliederzahl in den dreißiger Jahren, als die CGT ihre Aktionen bis ins Detail mit denen der Kommunistischen Partei abstimmte, nicht erklären. Umgekehrt hatte die CGT bei ihrem Entstehen beteuert, „sich außerhalb aller politischen Schulen zu halten“ (Artikel 2 ihres Gründungsstatuts), und sich mehr als zwanzig Jahre lang danach gerichtet. Doch diese Unabhängigkeit hat ihr vor dem Ersten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt wahren Einfluß gesichert.

Sollte man sich also eher mit der repressiven Natur des französischen Staates und der Arbeitgeber beschäftigen? 1908 saßen alle Mitglieder des Zentralausschusses der CGT im Gefängnis; dreizehn Jahre später war der Bund in Auflösung begriffen; 18000 Eisenbahner wurden nach den Streiks von 1920 vom Dienst suspendiert, 1938 wurden 15000 „Rädelsführer“ entlassen, 1947 wurden 2000 Bergleute gefeuert. Die Tatsache, daß ehemalige linke Wortführer (Briand, Millerand, Clemenceau, Jules Moch), die von Aktivisten zu Gemäßigten geworden waren, als bewaffneter Arm dieser Repressionswellen dienten, hat sicher zur geringen Glaubwürdigkeit des reformistischen Ansatzes beigetragen.

UNTERDRÜCKT, abhängig, zersplittert: An Gründen für die Schwächung der Bewegung hat es damals nicht gemangelt. Michel Dreyfus favorisiert jedoch eine andere Erklärung: Das geringe Interesse der französischen Arbeiterbewegung an Versorgungs- und Solidaritätsstrukturen, daran, die sozialen Probleme anzugehen. Diese „Spaltung zwischen der Politik der Forderungen und der gegenseitigen Unterstützung“ sieht er als „eine der wesentlichen Ursachen der schwachen Verwurzelung der französischen Gewerkschaftsbewegung“. Als Folge davon erscheint die Unfähigkeit, ihre Mitglieder außerhalb von Zeiten starker sozialer Kämpfe bei der Stange zu halten. Doch wie läßt sich dann verstehen, daß andere Gewerkschaftsbünde, die Force ouvrière oder die CFDT zum Beispiel, die weniger von einem systemkritischen Diskurs geprägt sind, dieses gewinnträchtige Feld des „Versorgungssyndikalismus“ nicht sofort besetzt haben? Versucht haben es ja einige. Warum haben sie so wenig Nutzen daraus gezogen?

Michel Dreyfus versetzt das Goldene Zeitalter der französischen Gewerkschaftsbewegung in die „glorreichen dreißig Jahre“ (1945-1975). Vielleicht liegt es ja daran, daß es in dieser Zeit Spielraum bei den Lohnverhandlungen gab. Und sehr wenig Arbeitslose.

SERGE HALIMI

dt. Christiane Kayser

1 Michel Dreyfus, „Histoire de la CGT“, Brüssel (Editions Complexe) 1995, 408 Seiten, 85 FF.

2 Danielle Tartakowsky, „Le Front Populaire: La vie est à nous“, Paris (Gallimard, Collection „Découvertes“) 1996, 144 Seiten (mit vielen Illustrationen), 82 FF.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Serge Halimi