14.06.1996

Hoffnungen und Hirngespinste

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Hoffnungen und Hirngespinste

Von

MICHEL

VERRIER *

VON der Zollunion zwischen der Türkei und der Europäischen Union, die seit dem 1. Januar 1996 in Kraft ist, war im Vorfeld behauptet worden, sie sei das beste Mittel gegen die Ausbreitung des Islamismus und die Erfolge der türkischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) unter Necmettin Erbakan. Dabei verhält es sich eher umgekehrt: Das Bemühen um eine Anbindung der Türkei an die Gemeinschaft der Fünfzehn könnte die gesellschaftliche Krise des Landes verschärfen und der Wohlfahrtspartei neuen Propagandastoff liefern.

Eine Regierung, die den Ausgleich der Staatsfinanzen erreichen, die Inflation bekämpfen und die Staatsverschuldung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts senken will, wird um eine erneute Schocktherapie nicht herumkommen – das gilt für die gescheiterte Regierung Yilmaz1 wie für jede andere Koalition des laizistischen Parteienspektrums.2

Gleich nach den Wahlen vom 24. Dezember 1995 und eine Woche vor Inkrafttreten der Zollunion stiegen die Preise für Grundbedarfserzeugnisse um 20 bis 25 Prozent. Im November brauchte, nach Angaben der Gewerkschaft Türk-IS, eine vierköpfige Familie 12,5 Millionen türkische Pfund (ca. 400 Mark), um ihre Grundbedürfnisse zu decken; der gesetzliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst betrug zu diesem Zeitpunkt 8,4 Millionen Pfund (ca. 270 Mark). Die Staatsbetriebe werden privatisiert, die großen Privatunternehmen werden sich umstrukturieren, um der direkten Konkurrenz gegen die europäischen Mitbewerber gewachsen zu sein, und viele Kleinbetriebe werden die Aufhebung der Schutzzölle nicht überleben – womit Hunderttausende weiterer Arbeitsplätze verlorengehen.

Erste Opfer dieser Schockwelle werden die Bewohner der Arbeiterviertel sein, wo viele bereits an der Armutsgrenze leben; die Erfolge der Wohlfahrtspartei erklären sich auch daraus, daß ihre Aktivisten sich um diese Menschen kümmern und eine Art von sozialer Hilfsorganisation unterhalten.3 Für die Türkei ist die Lage besonders schwierig, weil ihr nicht die Finanzhilfen zugute kommen, die neuen EU-Mitgliedsstaaten helfen, ihre Wirtschaft an das europäische Niveau anzugleichen. Sie muß sich vielmehr mit einer Kredithilfe von 800 Millionen Mark begnügen, die auf fünf Jahre verteilt ist und deren Auszahlung jederzeit am Veto Griechenlands scheitern kann.

Als EU-Mitglied hätte die Türkei „jährliche Zahlungen in Höhe von umgerechnet etwa drei Milliarden Mark im Rahmen der Subventionen für die am wenigsten entwickelten Regionen Europas (wie Griechenland, Irland und Portugal) erhalten. Und ihre Zahlungen an die Gemeinschaft hätten sich auf etwas mehr als eine Milliarde Mark belaufen.“ Diese Schätzung, von der man auch in Ankara ausgehen dürfte, verbindet das Essener Zentrum für Türkeistudien mit der Frage: „Sind die zusätzlichen Belastungen, die durch den Beitritt mitteleuropäischer Länder entstehen, für die Gemeinschaft noch tragbar, im Fall der Türkei dagegen nicht? Wenn man dieser Meinung ist, sollte man es deutlich aussprechen.“4

Tatsächlich ist die Zollunion ein Status zweiter Klasse. Der aber entspricht der unter christdemokratischen Politikern in der EU – und vor allem in Deutschland – verbreiteten Ansicht, ein muslimisches Land könne nicht Vollmitglied der Union werden. Das ist Wasser auf die Mühlen der Islamisten, die eine EU-Mitgliedschaft ohnehin als „Versklavung“ ansehen. Gleichwohl haben die Europäer für die Türkei eine besondere Funktion vorgesehen: als Schutzwall gegen den Islamismus, der die Türkei von Europa entfernen und an die arabisch-muslimische Welt heranrücken könnte. Solche „Gefahren“ sind allerdings eher Hirngespinste.5

Das Handelsvolumen der Türkei mit allen Ländern der muslimischen Welt erreicht gerade ein Drittel des Austauschs mit den EU-Ländern. Und was die turksprachigen Länder Zentralasiens betrifft, die angeblich eine natürliche großtürkische Gemeinschaft bilden, ist die Bilanz noch dürftiger: 1994 kamen nur 5 Prozent der Einfuhren Kasachstans aus der Türkei, 4 Prozent waren es in Kirgisistan. „Ein Magnet ist für diese Region allein die Europäische Union“, meint ein europäischer Diplomat in Ankara. „Die Führer der Turkrepubliken haben ihren Besuchern aus der Türkei, die ihnen die Ideologie des Panturanismus schmackhaft machen wollten, deutlich zu verstehen gegeben, daß man die Vorteile guter Beziehungen mit Brüssel leichter ermessen könne, nämlich an den Krediten.“ Solche Reaktionen machen auch den Kurswechsel von Alparslan Türkes verständlich: Der Führer der neofaschistischen MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, auch „Graue Wölfe“ genannt) hat das 1991 geschlossene islamisch-nationalistische Wahlbündnis mit der RP inzwischen aufgekündigt, um mit Tansu Çillers DYP zusammenzugehen.

Auch die RP zeigt sich unentschlossen bis gespalten, was ihre Haltung zur EU betrifft. Im Wahlkampf hatte Erbakan zwar erklärt, im Falle eines Sieges werde seine Partei das Zollabkommen mit Brüssel rückgängig machen und auch den Austritt aus der Nato betreiben6, aber nach den Wahlen klang es schon anders: Er wolle die Bindungen seines Landes an den Westen keineswegs lösen. Die Kehrtwendung macht deutlich, daß auch Erbakan lange genug im politischen Geschäft ist, um sich den Sinn für die Realitäten zu erhalten (er war schon 1974 Minister im Kabinett Ecevit); außerdem wollte er die (am Ende ergebnislosen) Verhandlungen mit Mesut Yilmaz und dessen ANAP über eine islamisch-liberale Regierung nicht gefährden.

Diese Koalition hätte ein erster Versuch sein können, die Islamisten in das demokratische Spiel der wechselnden Mehrheiten zu integrieren. Zugleich hätte man damit vielleicht den alarmierenden Widerspruch auflösen können, der sich aus den jüngsten Wahlresultaten ergibt: 80 Prozent der Wähler sind eigentlich für die laizistischen, europäisch orientierten Parteien, aber die Partei mit den meisten Stimmen ist die der Islamisten – die in den großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir bereits regiert und bei den Kommunalwahlen vom 2. Juni erneut deutlich zugelegt hat. Sie von der Regierungsverantwortung auszuschließen könnte also zu heftigen Konflikten führen.

Ohne die ablehnende Haltung der laizistischen Wähler zu übersehen, glauben manche Beobachter in Ankara und selbst in gewissen Wirtschaftskreisen, daß diese Allianz eine durchaus vernünftige Lösung wäre. Sie würde Necmettin Erbakan die Traumrolle wegnehmen, sich als fundamentaler Gegner aller schmerzhaften Maßnahmen zu geben, die im Lauf der wirtschaftlichen Umgestaltung noch nötig werden. Außerdem ist eine solche Koalition unvereinbar mit der Idee eines türkischen Bollwerks gegen den Islamismus, die in der EU gehegt wird. Der Druck aus Brüssel gegen eine Koalition mit der Wohlfahrtspartei paßt in Ankara jenen Vertretern des Staatsapparats und des Militärs ins Konzept, die unter Hinweis auf die kemalistischen Prinzipien den Zutritt zur politischen Macht überwachen.

Nun stellen aber die Mutterlandspartei (ANAP) unter Mesut Yilmaz und die Partei des Rechten Weges (DYP) unter Tansu Çiller keineswegs mustergültige laizistisch-demokratische Parteien dar. Die ANAP propagiert, im Gefolge ihres Gründers Turgut Özal, eine „Vereinigung von Nation und Islam“. Dieses Prinzip hat, gefördert von General Kenan Evren, der den Staatsstreich von 1980 exekutierte, die laizistischen Grundsätze Kemal Atatürks ersetzt. Die ANAP beherbergt Integristen ebenso wie Nationalisten und Neofaschisten, sie unterhält beste Beziehungen zu den religiösen Vereinigungen und den islamischen Banken, die ja ihre Existenz zu einem guten Teil Turgut Özal verdanken.7 Die ANAP hatte sich sogar mit einer kleinen fundamentalistischen Partei zusammengeschlossen, der BBP unter Muhsin Yazicioglu, deren Abgeordnete die Partei allerdings wieder verließen, als die Koalitionsverhandlungen zwischen dem ANAP-Vorsitzenden Mesut Yilmaz und der Wohlfahrtspartei von Erbakan gescheitert waren.

Tansu Çillers DYP wiederum ist mitverantwortlich für eine Art offizieller Anerkennung des Islamismus: für das Vordringen sunnitischer Integristen im Staatsapparat und in der Polizei – eine Entwicklung, die mindestens so bedrohlich ist wie die Erfolge Erbakans. Die Aleviten jedenfalls fühlen sich von Polizei und Militär nicht weniger bedroht als von der Wohlfahrtspartei.8 In den vergangenen Jahren hat Tansu Çiller freundliche Beziehungen zu den radikalsten Nationalisten, Fundamentalisten und Neofaschisten im politischen Spektrum der Türkei angeknüpft. Im letzten Wahlkampf ist sie mit etlichen Persönlichkeiten aufgetreten, die der MHP von Alparslan Türkes nahestehen. In die Yilmaz-Regierung entsandte sie zum Beispiel den ehemaligen Direktor der Sicherheitsdienste, Mehmet Agar, als Justizminister. Und Unal Erkan, der als Sondergouverneur der Kurdenregion für die Zerstörung von Dörfern und die Vertreibung der Bevölkerung verantwortlich war9, wurde zum Staatsminister befördert.

Was die Demokratisierung der Verfassung betrifft, die in Brüssel als Vorbedingung für die Unterzeichnung der Zollunion gehandelt wurde, so ist der Art. 118 des Grundgesetzes unverändert in Kraft. Demnach behält der Nationale Sicherheitsrat (CNS) nach wie vor das letzte Wort in Fragen der Politik und Kriegführung in Kurdistan. Das europäische Parlament hatte außerdem die Streichung des berüchtigten Art. 8 des Antiterrorgesetzes gefordert, der es erlaubt, jeden in Haft zu nehmen, der für die Anerkennung Kurdistans eintritt; diese Bestimmung bleibt weiterhin in Kraft, nur das Strafmaß wurde von fünf auf drei Jahre herabgesetzt.10

Die Europäische Gemeinschaft starrt auf die vermeintliche Bedrohung durch den Islamismus und übersieht dabei die tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen in den Kriegsgebieten im Osten.11 Die aber gehören gerade zu den wichtigsten Gründen für das Scheitern der etablierten Parteien und den Aufstieg der islamistischen Partei.

dt. Edgar Peinelt

1 Nach der Wahl vom 24. Dezember ergibt sich folgende Sitzverteilung im Parlament (in Klammern die Sitze in der vorangegangen Legislaturperiode): RP 158 (40) Sitze, DYP 153 (182), ANAP 131 (94), DSP (Ecevits Partei der Demokratischen Linken) 76 (3), CHP (Republikanische Volkspartei, linke Mitte, ehemaliger Bündnispartner der DYP) 50 (73). Auffällig sind die erheblichen Verluste von ANAP und DYP, die im Oktober 1991 zusammen 51 Prozent der Wähler hinter sich gebracht hatten, aber diesmal nur auf 38 Prozent der Stimmen kommen.

2 Die Inflationsrate war von 70 Prozent (1993) auf über 100 Prozent (1994) gestiegen und ist 1995 auf 80 Prozent zurückgegangen.

3 Vor den Wahlen rechneten viele Beobachter mit mindestens 25 Prozent Stimmen für die RP. Erbakan hatte gewettet, daß seine Partei, die von 1991 bis 1994 ihren Anteil verdoppeln konnte (von 9 auf 17 Prozent), auf 40 Prozent kommen werde.

4 „Türkei und Europäische Gemeinschaft“, Zentrum für Türkeistudien an der Universität Essen, Opladen (Leske Budrich) 1993.

5 Alain Chenal, „La Turquie et le monde arabe“, in „Le Rôle géostratégique de la Turquie“, IRIS, 1995.

6 Auch Bülent Ecevit war gegen die Unterzeichnung des Vertrags über die Zollunion durch Tansu Çiller.

7 Clément Henry Moore, „L'ouverture turque aux capitaux de l'Islam“, in „La Nouvelle Dynamique au Moyen-Orient“, Paris (L'Harmattan) 1993.

8 Die Verantwortlichen für das fundamentalistische Autodafé von Sivas, wo 37 Intellektuelle in den Flammen umkamen, weil sie angeblich Salman Rushdie verherrlichten, wurden nur zu symbolischen Strafen verurteilt – die Regierung fand keine Worte der Kritik für diese Rechtsverweigerung.

9 Siehe Jean-Fran,cois Pérouse, „Terre brulée au Kurdistan“, Manière de voir, Nr. 29, Februar 1996.

10 Seither wurden 99 Intellektuelle, unter ihnen der Schriftsteller Orhan Pamuk, unter Berufung auf den geänderten Art. 8 gemeinschaftlich angeklagt, weil sie ein Buch über die Kurdenfrage herausgegeben haben. Wegen eines Artikels im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (9. Januar 1995), in dem er den schmutzigen Krieg der türkischen Armee in Kurdistan anprangerte, wurde Yachar Kemal zu einer Haftstrafe von über einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

11 Nach Angaben der türkischen Vereinigung für Menschenrechte (IHD) starben 1993 29 Personen in der Haft, 13 verschwanden; 1994 waren 36 Tote und 49 Verschwundene zu verzeichnen. Im September 1995, erklärte die IHD, daß im laufenden Jahr bereits 18 Personen in der Haft und unter der Folter gestorben sowie 18 Personen verschwunden seien.

* Journalist, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Michel Verrier