14.05.1999

Identitäts-Fanatismus

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Identitäts-Fanatismus

MIT seinen „Persischen Briefen“ versuchte Montesquieu, den Europäern die Relativität ihrer Werte ins Bewußtsein zu rücken. Allein: In einer Einheitswelt, die von einem Einheitsdenken beherrscht wird, gibt es keine Perser mehr. Die Kosmopolis ist Wirklichkeit geworden, und doch vertiefen sich die Risse allenthalben, man denke nur an Bosnien und das Kosovo, an Ruanda, die ETA und die IRA.

Der Triumph der Globalisierungsträume ermöglichte es (und ermöglicht es noch), jeden relativierenden Diskurs, sogar noch den zögerlichsten, zu delegitimieren. Mit den Menschenrechten, der Demokratie und natürlich der Wirtschaft eroberten die transkulturellen Invarianten die Szene, und sie sind nicht mehr hinterfragbar. Wir erleben eine regelrechte „Rückkehr des Ethnozentrismus“. Eine neue Form davon ist die arrogant proklamierte Apotheose des All-Marktes. Die programmgemäße Verbreitung der neuesten Kommunikationstechnologien innerhalb des Welt- Dorfes hat einen starken Beigeschmack von kulturellem Imperialismus. Birgt der Siegeszug von Wissenschaft und Technik mit seinen praktischen Folgen (worunter vor allem die Entwicklung der Gentechnik zu nennen ist) im Keim eine radikale Intoleranz gegen die Verschiedenheit?

Dabei sollte man wissen, daß es keine die Vielfalt der Kulturen transzendierenden Werte gibt, aus dem einfachen Grund, weil ein Wert als solcher immer nur in einem gegebenen kulturellen Kontext existiert. Dieser Sieg des ganz gewöhnlichen Ethnozentrismus wurde ermöglicht durch die Dämonisierung jener Exzesse, die Rückwirkungen der Globalisierung sind: Fundamentalismen und ethnizistische Formen des Terrorismus haben Konjunktur. Die verschiedenen, von der globalen Vereinheitlichung und der erbarmungslosen Konkurrenz der Regionen und Gesellschaften hervorgerufenen Formen des Rückzugs in die Identität fallen um so gewaltsamer aus, je schmaler die historische und kulturelle Basis ist (sofern sie nicht ganz fehlt, wie beim Grenzfall des von der Lega Nord angestrebten unabhängigen Norditalien). Indem sie die Kulturen liquidiert, führt die Globalisierung zur Ausbreitung von „Stammesdenken“, zur Abschottung und zum Ethnozentrismus, aber mitnichten zur Koexistenz und zum Dialog.

Die Zunahme der Nachahmungs- Gewaltakte vor dem Hintergrund einer Dämonisierung der Sündenböcke ist die logische Folge von Gleichmacherei und Pseudo-Multikulturalität. Aufgebläht von den Medien, haben diese Phänomene einen so ungeheuren, sicherlich auch legitimen Abscheu hervorgerufen, daß man einem blauäugigen, undifferenzierten Universalismus westlicher Prägung verfällt und hohle Phrasen wie ein Beschwörungsritual wiederholt.

Nach vierzig Jahren wirtschaftlicher Verwestlichung der Welt wäre es freilich naiv, deren perverse Auswirkungen zu beklagen. So gerät man in einen gefährlichen Dualismus: Ethnizismus oder Ethnozentrismus, identitärer Terrorismus oder kannibalischer Universalismus. Die dezidierten Kritiker der Globalisierung sind meist selbst Gefangene des Universalismus der westlichen Werte. Nur wenige versuchen, sich von ihm zu befreien. Aber niemand wird etwas gegen die schädlichen Folgen der Einheitswelt der Ware ausrichten, solange er im Einheitsmarkt der Gedanken gefangen ist. Um den Fortbestand der Menschheit zu sichern und insbesondere die gegenwärtigen und noch zu erwartenden Ausbrüche des Ethnizismus einzudämmen, ist es entscheidend, für Toleranz und Achtung vor dem Andersartigen einzutreten, und zwar nicht, indem man abstrakte Universalprinzipien verficht, sondern indem man sich fragt, wie vielgestaltiges menschliches Leben in einer gewaltig geschrumpften Welt aussehen kann.

Auf die Schädlichkeit identitärer Abschottung und ethnizistischer Tendenzen kann nicht genug hingewiesen werden, doch man darf auch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Man muß die Mechanismen studieren, insbesondere die der Verabsolutierung von Unterschieden, die durch skrupellose Identitätsmacher herbeigeredet werden. Parallel dazu muß auch der arrogante und abermals triumphierende Ethnozentrismus der westlichen Selbstgerechtigkeit entlarvt werden. Das bedeutet Kritik der Illusion einer globalen Kultur, die als Nebenprodukt bei der technisch-wirtschaftlichen Globalisierung abfallen würde. Wer will uns weismachen, das böse Globale sei lediglich ein entstelltes und karikaturhaftes Double des guten Universalen? Ist die Realität der Erosion und der Zertrümmerung der Werte durch die globale technisch-wirtschaftliche Megamaschine nicht in gewisser Weise auch die Wahrheit des Universellen, wenn dieses Universelle einzig und ausschließlich das Universelle des Westens ist, und sein harter Kern nichts anderes als die Verwirtschaftlichung und Merkantilisierung der Welt?

Diese Auseinandersetzung mit dem Ethnozentrismus ist um so dringender, als die Problematik des Rechtes auf Differenz unseren Alltag durchdringt, angefangen beim islamischen Kopftuch über die Beschneidung der Mädchen bis hin zum neuen Rassismus und zur Ghettoisierung der Vorstädte. Das Betrachten unserer Überzeugungen sozusagen von außen, indem man sich an die Stelle eines anderen setzt, ist unerläßlich, wenn wir die Selbsterkenntnis nicht einbüßen wollen, und diese Gefahr bringt die kulturelle Globalisierung ständig mit sich.

ES geht nicht darum, eine universale Kultur zu entwerfen, die es nicht gibt. Es geht darum, genügend kritischen Abstand zu bewahren, damit die Kultur des anderen der eigenen einen Sinn verleiht. Das Drama des Abendlandes liegt darin, daß es sich von zwei Haltungen nie freimachen konnte, die letztendlich auf dasselbe Resultat hinauslaufen: die Kultur des anderen negieren, oder die eigene Kultur zugunsten eines sehr spezifischen Universalismus verleugnen. Religion und Wissenschaft (und besonders die Wissenschaftsreligion) beinhalten im Westen eine Verabsolutierung des Relativen, wie dies bei allen Fundamentalismen der Fall ist. Wahre Toleranz beginnt mit der Relativierung des Absoluten.

Verabsolutieren wir hingegen das Universelle, so machen wir es zum religiösen Dogma, das vergleichbar ist mit dem islamischen Fundamentalismus, der aus einer gegengleichen Verabsolutierung des Relativen und des Partikulären hervorgegangen ist. Mit einem Wort, man sollte sich überlegen, ob man nicht den universalistischen Traum, der sich durch seine unweigerlich ins Totalitäre mündenden Umsetzungen überlebt hat, durch einen „Pluriversalismus“ ersetzen könnte, der notwendigerweise relativ wäre und in dem Montesquieus Perser und all die anderen nicht nur wieder ihre Daseinsberechtigung, sondern auch ganz und gar Platz hätten?

SERGE LATOUCHE

Philosoph und Autor u.a. von „Die Verwestlichung der Welt. Essay über die Bedeutung, den Fortgang und die Grenzen der Zivilisation“, aus dem Französischen von Ilse Utz, Frankfurt am Main (dipa) 1993.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von SERGE LATOUCHE