Blogbeitrag / Die Zeit läuft weg

Griechenlands Finanzminister Tsakalotos stößt auf taube Ohren beim Eurogroup-Vorsitzenden Dijsselbloem. © reuters/Francois Lenoir 

Dem Beitrag vom 27. Februar 2017 stelle ich einen Bericht über den aktuellen Stand der Verhandlungen voran, die seit zwei Wochen zwischen der Athener Regierung und Technokraten der drei EU- Institutionen und des IWF (Quadriga) laufen.

Die Zeit läuft weg (Aktualisierung vom 12. März 2017)

Die Verhandlungen in der griechischen Hauptstadt, die zu einem „Staff-Level Agreement“ (SLA) mit den Technokraten der EU-Kommission, der EZB, des ESM und des IWF führen sollen, gestalten sich noch schwieriger und zäher als erwartet. Obwohl man in Brüssel von wesentlichen Fortschritten spricht, hakt es in den Diskussionen zwischen der griechischen Delegation und den Technokraten noch an mehreren Punkten. In der griechischen Presse wird dabei die negative Rolle des IWF hervorgehoben.

Vor allem beim Thema der „Arbeitsmarktreformen“ hat die IWF-Vertreterin Delia Velculesu offenbar auf stur geschaltet. Der IWF widersetzt sich dem griechischen Vorschlag auf Wiedereinführung „normaler“ Tarifverhandlungen, wie sie dem EU-Standard entsprechen, und besteht auf einer unternehmer-freundlichen Regelung für Massenentlassungen (die Unternehmen sollen 10 statt nur 5 Prozent der Belegschaft kündigen dürfen). Nach einem Bericht in der Efimerida ton Syntakton (11. März 2017) verweigerte Velculescu in dieser Frage jede inhaltliche Diskussion. Als sie in der Sitzung vom 5. März von der griechischen Arbeitsministerin Efi Achtsioglou gefragt wurde, warum sie nicht bereit sei, die griechischen Positionen auch nur zu kommentieren, soll die IWF-Vertreterin gekontert haben: „Nicht ich habe einen Kredit beantragt.“

Die EU schweigt zu den Forderungen des IWF

Nach diesem Dialog (berichtet die EfSyn) habe die griechische Delegation die Sitzung verlassen. Zur großen Enttäuschung der Griechen haben die Vertreter der „europäischen“ Institutionen zu den Forderungen des IWF geschwiegen, so als teilten sie die Meinung, dass der Schuldner das Diktat der Gläubiger fraglos hinzunehmen habe. Dabei widersprechen die Forderungen des IWF in dieser Frage den gemeinsamen EU-Standards, auf die sich auch das Experten-Gutachten bezieht, das die Gläubiger als Grundlage für die griechischen Arbeitsmarktreformen akzeptiert haben (siehe dazu meinen Bericht vom 22. Dezember 2016 auf diesem Blog).

Die Athener Regierung hofft jetzt, dass die EU in dieser Frage ihre eigenen Normen und Maßstäbe gegen den IWF verteidigt. Sie setzt dabei insbesondere auf den EU-Finanzkommissar Moscovici, der - nicht nur in dieser Frage - als IWF-Kritiker gilt. Sollte sich die Washingtoner Institution durchsetzen, wäre dies ein weiteres Zeichen dafür, dass der IWF sich unnachgiebig geben kann, weil Berlin den Fonds „um jeden Preis“ in der Quadriga der Gläubiger halten will - selbst um den Preis des Verrats an den eigenen Prinzipien. Und das obwohl die finanzielle Beteiligung des IWF keinesfalls notwendig ist, wie die Tatsache zeigt, dass er in der nächsten Phase nur noch 3 bis 6 Milliarden Dollar für Griechenland bereitstellen will (Bloomberg-Bericht vom 10. März 2017).

Ein weiteres Thema ist in den Verhandlungen ebenfalls noch kontrovers. Die Gläubiger verweigern die Zustimmung zu den griechischen Plänen, was die Ausgestaltung der „positiven“ Maßnahmen betrifft, die man ihnen in der Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar zugestanden hat (allerdings nur für den Fall, dass die Athener Regierung ihr Ziel eines Überschusses im Primärhaushalt von mehr als 3,5 Prozent erzielt).

Tsipras und Finanzminister Tsakalotos haben für diesen Fall eine Senkung der Immobiliensteuer und der MWS für einige Produkte angekündigt, was den schwächeren Einkommen zu Gute kommen soll. Damit sind die Gläubiger nicht einverstanden. Sie fordern vielmehr Steuersenkungen, die der „wirtschaftlichen Belebung“ dienen sollen, insbesondere eine Minderung der Unternehmenssteuer und eine Absenkung des höchsten Einkommenssteuersatzes. Dem hält die griechische Seite entgegen, dass eine Stärkung der einkommensschwachen Gruppen die Konjunktur ebenfalls und womöglich sogar stärker belebt.

Ein Kompromiss zeichnet sich dagegen bei den beiden wichtigsten Themen ab. Die Schwelle für das steuerfreie Einkommen wird deutlich abgesenkt, von heute 8636 Euro auf rund 6000 Euro. Das wird die bislang nicht besteuerten Einkommensbezieher mit bis zu 700 Euro jährlich, und Jahreseinkommen in Höhe von 20 000 mit rund 3000 Euro (abzulesen an einer tabellarischen Übersicht im Wirtschaftsteil der Kathimerini vom 5. März 2017). Auch bei der weiteren Absenkung der Renten hat man offenbar eine Kompromissformel gefunden. Wann ein SLA zu erwarten ist, wird sich schon diese Woche zeigen, wenn die Technokraten der Quadriga nach Athen zurückkehren. Schon jetzt ist aber klar, dass es für einen endgültigen Beschluss beim Eurogroup-Treffen im März nicht reichen wird. Selbst Tsipras geht inzwischen nur noch von einem Abschlusstermin im April aus, setzt also auf das Eurogroup-Treffen in Malta vom 7. April. Wenn die Evaluierung dort abgeschlossen wird, könnte der angestrebte Beschluss des EZB-Rats zur Einbeziehung Griechenlands in das QE-Programm der Zentralbank am 27. April erfolgen. Wenn das nicht klappt, gilt erneut und verschärft: Die Zeit läuft weg.

12.03.2017

 


Die Zeit läuft weg

Die Vereinbarung von Brüssel vom letzten Montag (20. Februar) schafft für die griechische Regierung ein doppeltes Problem. Zum einen werden damit neue Sparzwänge gesetzt, die erstmals für die Zeit nach dem Ablaufen des laufenden Sparprogramms im Sommer 2018 gelten. Zum anderen hat sich ein Problem zugespitzt, das auf der zeitlichen Achse liegt: Der endgültige Abschluss der zweiten Evaluierung wird weiter hinausgeschoben, wahrscheinlich bis Ende Mai.

Damit werden sich auch zwei Entscheidungen verzögern, die für die wirtschaftliche Erholung Griechenlands von zentraler Bedeutung sind: die Aufnahme griechischer Staatsanleihen in das EZB-Programm des Quantitative Easing (QE, „quantitativen Lockerung“), und daraus folgend: die Rückkehr Griechenlands auf den internationalen Anleihenmarkt (siehe meinen letzten Blog vom 25. Januar 2017).

Diesen wichtigen Schritt hatte die Regierung Tsipras für die zweite Hälfte dieses Jahres geplant. Das ist jetzt ausgeschlossen. ESM-Chef Regling geht davon aus, daß Griechenland erst von Mitte 2018 an „selbst Geld am Markt besorgen kann“ (so in der Süddeutschen Zeitung vom 22. Februar).

Neue Verpflichtungen – für die Zeit nach 2018

Dass die Finanzminister der Eurozone, aber auch die EU- Kommission die allzu optimistischen Erwartungen der Athener Regierung enttäuschen würden, war bereits bei der Eurogroup-Sitzung vom 26. Januar klar: „Im Ministerpräsidentenamt hat man nicht erwartet, dass die europäischen Partner mit Ausnahme der Franzosen eine so perfekte Einigkeit mit dem IWF demonstrieren würden, was die Forderung nach prophylaktischen Maßnahmen für die Zeit nach dem Ablauf des Programms betrifft.“ (Ta Nea vom 28. Januar 2017).

Die vorgreifende Verpflichtung auf konkrete Sparmaßnahmen für die Zeit nach 2018 beseitigt die von der Tsipras-Regierung gehegte Illusion, dass Griechenland nach dem Ablauf des laufenden „Memorandums“ wieder ein souveräner Staat sein wird. Denn dem Land wird etwas abgefordert, was von keiner der anderen „Memorandum“-Länder je verlangt wurde: Das griechische Parlament soll Gesetze über konkrete Staatseinnahmen und –ausgaben für die Zeit nach Abschluss des Sparprogramms beschließen und damit künftige Regierungen binden, deren Zusammensetzung heute niemand kennt. Als diese Zumutung vor zwei Jahren erstmals auf den Tisch kam – damals seitens des IWF - wurde sie von Tsipras mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass eine vorgreifende Gesetzgebung nach der griechischen Verfassung nicht möglich ist. Diese Unmöglichkeit wird jetzt Realität.

Das Grexit-Gespenst ist zurück

Nach der Eurogroup-Sitzung vom 26. Januar geisterte plötzlich das alte Schreckgespenst des Grexit wieder herum, reanimiert durch die üblichen Verdächtigen – darunter der neoliberale Europa-Abgeordneten Alexander (Graf) Lambsdorff -, die eine Rückkehr Griechenlands zur Drachme fordern. Auch in der internationalen Wirtschaftspresse erschienenen wieder düstere Analysen, die sich in den Kursbewegungen der griechischen 10-Jahres-Anleihen abbildeten: Die Zinsen, die der griechische Staat potentiellen Anlegern bieten muss, lagen am 25. Januar noch deutlich unter 7 Prozent. Tags darauf schossen sie in die Höhe und überschritten bis zum 31. Januar die Marke von 7,8 Prozent.

Das mit dem Eurogroup-Ultimatum vom 26. Januar entstandene Klima, die Kalküle der EU-Granden und das Dilemma der Athener Politiker hat Kostas Kallitsis sehr anschaulich beschrieben. Im Folgenden dokumentiere ich diese Analyse, die nicht überholt ist, weil sie die (begrenzten) Optionen der griechischen Politik schonungslos herausarbeitet.

Der Frisör von München und die Wette auf Griechenland

Von Kostas Kallitsis (Kathimerini vom 28. Januar 2017, die Erläuterungen in Klammern stammen von mir)

„Ich verstehe dich, du hast Recht, aber mein Wähler ist der Frisör von München.“ So lautete die Antwort des Herrn Schäuble, als dessen griechischer Kollegen ihm vorhielt, dass die Maßnahmen, die der griechischen Regierung abverlangt werden, sozial zu hart und ökonomisch nicht zu rechtfertigen seien. Das ist einige Zeit her (die Szene spielt noch zwischen Schäuble und Varoufakis), aber die Kriterien, nach denen die Eurogroup häufig ihre wichtigen Entscheidungen trifft, sind nach wie vor national bestimmt. So war es auch am letzten Donnerstag (25. Januar) als die Eurogroup ihre Beschlüsse über Griechenland fasste. Auch da hatte man den Frisör von München im Kopf, und dessen Kollegen in Amsterdam.

Das politische Personal jedes Landes hat jeweils die eigene nationale Wählerschaft im Auge, der sie politische Rechenschaft schuldet. Offenbar hat man die Frisöre von München und von Amsterdam überzeugt, dass der IWF am griechischen Programm beteiligt sein müsse, ohne dass man allerdings die Vorschläge des IWF umsetzen will, die auf eine radikale Entlastung der griechischen Staatsschuld zielen. Die Eurogroup hat es nicht geschafft, diesen Knoten aufzulösen, sie hat ihn vielmehr durchschlagen. Und damit den Schwarzen Peter den Griechen zugespielt – als wäre es deren Schuld, wenn der IWF aus dem griechischen Programm aussteigen sollte.

Die Eurogroup will zum einen den Abschluss der zweiten Evaluierung zumindest bis zu den Wahlen in den Niederlanden hinausschieben, wobei die Beteiligung des IWF am griechischen Programm offen bleibt. Zum anderen wollen die Euro-Finanzminister vermeiden, das entscheidende Problem, nämlich die Differenz zwischen Deutschland und dem IWF hinsichtlich des Umfangs der griechischen Schuldenentlastung zu benennen, was sie mit der – angeblichen – Verantwortung der Griechen kaschieren. Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, hat man von Griechenland gefordert, schon jetzt bestimmte Maßnahmen per Gesetz zu verabschieden, die vielleicht 2019 ergriffen werden müssen, falls dann die Haushaltsziele nicht erreicht werden.

Mit anderen Worten: Die Eurogroup hat Griechenland überraschend strenge Bedingungen auferlegt, die erstens jeder ökonomischen Logik entbehren; die zweitens die Gefahr bedeuten, dass erneut (wie 2014) die Wachstumsdynamik versiegt; und die drittens die Ungewissheit hinsichtlich des ökonomische Wachstum der nächsten Jahre weiter verlängern. Diese Entscheidung hängt klar erkennbar mit den Wahlstrategien in zwei Ländern zusammen (zunächst in Holland) – und hat das unausgesprochene Ziel, den Abschluss der griechischen Evaluierung hinauszuschieben. So sieht sie aus, die schlichte Wahrheit.

Wenn die Eurogroup dieses Ziel erreicht, wird die Evaluierung bestenfalls Ende März abgeschlossen sein, was das klare Risiko impliziert, dass wir den Zug verpassen. Deshalb ist es in unserem Interesse, die Evaluierung sofort abzuschließen.

Ob wir das schaffen können, ist nicht sicher. Aber ich bin überzeugt, dass wir es versuchen müssen, und zwar schnellstmöglich. Das heißt, wir müssen die wenigen offenen Fragen abhaken (in Fragen des Arbeitsrechts und der Energiepolitik), und die (unvernünftige) Gesetzgebung über prophylaktische Maßnahmen für das Jahr 2019 akzeptieren. Jetzt sofort! Auf diese Weise wird es uns gelingen, die – erneute - dramatische Ungewissheit über einen Grexit vom Tisch zu wischen, die Einbeziehung in das Quantitive Easing-Programm (der EZB) zu erreichen, die Rückkehr auf die Finanzmärkte zu testen und die Chance zu wahren, dass wir den Kampf für das größte Ziel – nämlich ökonomisches Wachstum - gewinnen. Wenn dieser Kampf siegreich ausgeht wird 2019 keine der (prophylaktischen) Maßnahmen fällig – alles wird lediglich auf dem Papier bleiben.

Wie wahrscheinlich ist eine solche Politik des Neubeginns? Statt einer Antwort, will ich drei mögliche Szenarien darstellen:

1. Wahlen. Was allerdings keine Lösung wäre, denn auch nach Wahlen wird das Land verpflichtet sein, Vorratsmaßnahmen für 2019 zu beschließen – nur dass man in dem Fall 3 bis 4 wertwolle Monate verloren hätte. Um es glasklar zu sagen: Diese Monate hätte man dann Herrn Schäuble und denen geschenkt, die die Evaluierung noch weiter verzögern wollen. Jede neue Regierung wird die Beschlüsse der Eurogroup umsetzen müssen – jeder Politiker, ob er es (explizit) akzeptiert oder nicht.

2. Die Verabschiedung der Maßnahmen für 2019: Diese könnte durch eine breite parlamentarische Mehrheit erfolgen (so wie auch das 3. Memorandum 2015 mit 222 Stimmen verabschiedet wurde), was zugleich zur Bildung einer neuen Regierung der Kooperation führen könnte, die dann die für den erfolgreichen Abschluss der laufenden Programms (des sog. dritten Memorandums) verantwortlich wäre. Dieses Szenario ist nicht wahrscheinlich, weil bei der Regierung wie bei der Opposition einen Mut voraussetzen würde, der derzeit nicht zu entdecken ist.

3. Die heutige Regierung übernimmt die Kosten und die Verantwortung für eine große Entscheidung: Sie verabschiedet die geforderten Maßnahmen, um die Aufnahme in das QE-Programm zu erreichen und den ersten Test auf den Finanzmärkte zu ermöglichen. Das heißt den ernsthaften Versuch, ökonomisches Wachstum zu erreichen, damit die neuen Maßnahmen 2019 nicht nötig werden.

Ich halte das dritte Szenario für wahrscheinlich. Aber ich kann nur schwer sehen, wo die neue Kräftekonstellation und der Geist nationaler Verständigung herkommen sollen, die für die nachfolgenden Schritte in Richtung eines Wirtschaftsaufschwungs erforderlich wären.“

Soweit die nüchterne Einschätzung von Kallitsis nach der Eurogroup-Sitzung vom 26. Januar. Was lernen wir daraus für die Bewertung der Eurogroup-Entscheidungen vier Wochen später?

„Vorratsgesetze“ werden endgültig

Am 20. Februar ist das dritte Szenario von Kallitsis tatsächlich eingetroffen: Athen musste weiteren „unvernünftigen“ Forderungen der Gläubiger zustimmen. In einer 45 Minute dauernden Mini-Konferenz vor Beginn der offiziellen Eurogroup-Sitzung akzeptierte die Athener Delegation (Finanzminister Tsakalotos und sein Stellvertreter Choularakis) gegenüber den Vertretern der Quadriga (EU-Kommission, EZB, IWF, ESM) die geforderte „vorgreifenden“ Gesetzgebung, die Griechenland zu weiteren Sparmaßnahmen in Höhe von 3,6 Milliarden Euro verpflichtet. Die Regie bei diesen Kapitulationsverhandlungen führten der Eurogroup-Vorsitzende, der Niederländer Jeroen Dijsselbloem und der Leiter der Euroworking Group, der Österreicher Thomas Wieser.(1)

Eine wichtige Annahme, die Kallitsis in seinem Szenario unterstellte, hat sich jedoch als zu optimistisch erwiesen. Eigentlich sollten die per „Vorratsgesetzgebung“ beschlossenen Einschnitte nur dann erfolgen, wenn Griechenland mit seinem Staatshaushalt 2018 die verabredete Zielmarke eines Primärüberschusses in Höhe von 3,5 Prozent des BIP verfehlen würde. Diese Einschränkung wurde am 20. Februar beseitigt. Die neuen Gesetze treten in zwei Jahren auf jeden Fall und unabhängig von der Höhe des Primärüberschusses in Kraft. Sie beinhalten nicht mehr „konditionale“, sondern endgültige Sparmaßnahmen. Damit ist das Argument geplatzt, mit dem Tsakalotos die Bedeutung der „Vorratsgesetze“ heruntergespielt hat, dass nämlich das Eintreten des Ernstfalles „höchst unwahrscheinlich“ sei. Die geforderten Maßnahmen – die Absenkung der Schwelle für steuerfreie Einkommen und weitere Kürzungen der Renten auf breiter Front – werden vom 1. Januar 2019 an bittere Realität.

Wenigstens kein Schiffbruch

Als einzige verbindliche Gegenleistung erhielt Tsakalotos die Zusage, dass die Technokraten der Institutionen in dieser Woche nach Athen zurückkehren, um ihre Evaluierungsarbeiten voranzutreiben – bis zu einem Abschluss, für den es immer noch kein Datum gibt. Insofern beseitigt der Beschluss vom 20. Februar noch nicht die Ungewissheit über das Ende der aktuellen Hängepartie. Das Beste, was man über die Eurogroup-Sitzung sagen kann, ist mit den Worten der Kathimerini, dass sie einen Schiffbruch vermieden hat (Leitartikel vom 22. Februar ).

Das Ergebnis von Brüssel verschärft den Erklärungsnotstand der Athener Regierung. Erneut musste sie – mit dem Rücken zur Wand – zwei ihrer eigenen „roten Linien“ verletzen. Tsipras selbst hat noch kurz zuvor beteuert, man werde „nicht einen einzigen Euro an weiteren Sparmaßnahmen“ akzeptieren. Nüchterner - und ehrlicher - hatten sich vor dem 20. Februar Finanzminister Tsakalotos und sein Vize Choularakis geäußert. Tsakalotos ging so weit, die „kein weiterer Euro“-Aussage seines Regierungschefs als verhandlungstaktisches Manöver zu relativieren. Und Choularakis verlangte eine „Einigung sofort“, um die negativen Rückwirkungen für die Realwirtschaft und das griechische Bankensystem zu begrenzen.(2) Griechenland könne sich einen weiteren Aufschub nicht leisten, selbst wenn vielleicht in drei Monaten ein besserer Kompromiss zu erreichen wäre.

Zeit ist Geld

Die für die Staatskasse Verantwortlichen wissen am besten, wann bei den griechischen Finanzen wieder der Notstand eintritt. Der Spruch „Zeit ist Geld“ hat für Griechenland eine existentielle Bedeutung. Deshalb baute Tsakalotos eine Verhandlungsposition auf, die sich mit der Vorratsgesetzgebung abfindet, aber dafür Gegenleistungen fordert. Explizit formuliert wurden drei Forderungen:

- eine verbindliche Festlegung von Höhe und Dauer des Primärüberschusses nach 2018;

- eine Vereinbarung über konkrete „mittelfristige“ Maßnahmen zur weiteren Schuldenentlastung (3)

- die Zusage für eine Reihe „positiver Maßnahmen“ für den Fall, dass der Primärüberschuss von 3,5 Prozent übertroffen wird.

Wie hat die Eurogroup am 20. Februar auf diese griechischen Forderungen reagiert? Punkt 1 und 2 blieben offen, zumindest bis zu einem „staff level agreement“, das die Technokraten der Quadriga innerhalb der nächsten zwei Wochen in Athen aushandeln wollen. Doch wann die Eurogroup endgültig über die Evaluierung entscheidet, hat Eurogroup-Chef Dijsselbloem bewusst offengelassen. Die nächste Sitzung der Euro-Finanzminister findet am 20. März statt, eine zweite Chance wäre eine außerplanmäßige Sitzung am Rande der informellen Sitzung aller EU-Finanzminister ( Ecofin), die am 7. April in Malta stattfindet. Dijsselbloem stellte freilich klar, dass auch dieser Termin nicht garantiert ist. Er sieht keine „übertriebene Dringlichkeit“, da die Athener Regierung ja noch kein Liquiditätsproblem habe.(4) In Brüssel geht man davon aus, dass die Evaluierung erst auf der Eurogroup-Sitzung vom 22. Mai abgeschlossen wird.(Kathimerini vom 25. Februar).

Die Gegenleistungen lassen auf sich warten

Die von Tsakalotos geforderten Gegenleistungen 1 und 2 stehen also weiter aus. Das gilt vor allem für die Frage, ob die Quadriga in den nächsten Wochen tatsächlich konkrete „mittelfristige“ Maßnahmen zur Schuldenentlastung beschließen wird. Ein solcher Beschluss wird seit Monaten von deutscher Seite verhindert, während der IWF auf eine „präzisere Beschreibung“ der Schuldenentlastung drängt. Da es immer noch unwahrscheinlich ist, dass Schäuble und die CDU vor den Bundestagswahlen im September verbindliche Beschlüsse zulassen, wird dieses Thema wahrscheinlich erst nach Abschluss der Evaluierung wieder auf die Tagesordnung kommen (Kathimerini vom 22. Februar).

Was besprachen Merkel und Lagarde?

Dabei fragt sich allerdings, ob der IWF weiter mitspielt, wenn die Frage der griechischen „Schuldentragfähigkeit“ nicht geklärt ist. Wie IWF-Chefin Lagarde nach ihren Gesprächen mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin klargestellt hat, ist dies für den IWF nach wie vor eine Bedingung für die weitere Beteiligung am griechischen Programm. Aber in Washington ist man offenbar bereit, Beschlüsse über weitere konkrete Maßnahmen nicht zur Bedingung für die zweite Evaluierung zu machen. Das bedeutet - ganz im Sinne von Berlin: konkrete Entscheidungen über die Modalitäten der Schuldenentlastung erst nach den deutschen Wahlen.(5) Für den Bericht im Handelsblatt (vom 24. Dezember), wonach Merkel gegenüber Lagarde die prinzipielle Bereitschaft zu der geforderten Schuldenentlastung erklärt hat, gab es in Berlin erwartungsgemäß keine offizielle Bestätigung. (Kathimerini vom 25. Februar).

Fazit: Der IWF ist hinsichtlich des Zeitplans der Schuldenentlastung auf die Berliner Linie eingeschwenkt. Zu Recht stellt der Leitartikel der EfSyn (vom 23. Februar) fest, dass der Streit zwischen dem IWF und Berlin offenbar zu Lasten Athens beigelegt wurde. Damit müsse Griechenland bei den bevorstehenden Verhandlungen mit einer „gemeinsamen Front der Gläubiger“ rechnen; dies sei „nicht die beste Voraussetzung, um auf einen günstigen Ausgang zu hoffen.“ Zumindest nicht beim Thema Schuldenentlastung.

Hoffnungen beim Primärüberschuss

Bei der zweiten Forderung, der Frage des Primärüberschusses kann sich die griechische Seite mehr Hoffnungen machen. Die Position Schäubles, der griechische Haushalt müsse nach 2018 noch mindestens zehn Jahre lang einen Primärüberschuss in Höhe von 3,5 Prozent des BIP aufweisen, wird von den meisten Euro-Ländern abgelehnt. Die gut informierte Brüsseler Kathimerini-Korrespondentin zitiert EU-Quellen, wonach eine Einigung bereits erzielt sei: Die geforderte Dauer werde „deutlicher weniger als zehn Jahre“, aber mehr als drei Jahre betragen. Das könnte am Ende auf fünf Jahre hinauslaufen. Diese Frage muss aber in jedem Fall vor dem Abschluss der Evaluierung entschieden werden.

Und wie steht es mit der dritten von Athen erwarteten Gegenleistung: den „guten Maßnahmen“, die die „schlechten“ (in Sachen Besteuerung und Renten) kompensieren sollen? Tatsächlich haben die Gläubiger den Griechen für die Zeit nach 2018 entsprechende Entlastungen zugestanden, falls der Staatshaushalt mehr als den vereinbaren Primärüberschuss (von 3,5 Prozent des BIP) ausweist. Als Beispiel für solche „guten“ Maßnahmen denkt die Regierung an eine Senkung der Immobiliensteuer (um bis zu 40 Prozent) einen reduzierten Mehrwertsteuersatz für einige Grundnahrungsmittel, oder verbesserte soziale Leistungen für die Ärmsten. (EfSyn bzw. Kathimerini vom 21. Februar 2017).

Zugeständnis mit zwei Haken

Die Sache mit den „guten Maßnahmen“ hat jedoch nicht nur einen Haken, sondern zwei. Denn erstens sind sie - im Gegensatz zu den „schlechten“ - nicht garantiert, sondern hängen - Jahr für Jahr - vom erzielten Haushaltsüberschuss ab. Wird die Zielmarke von 3,5 Prozent nicht übertroffen, entfällt die Kompensation. Wenn man das Bild von „Zuckerbrot und Peitsche“ bemühen will, wie es ein EU-Bürokrat gegenüber der Kathimerini-Korrespondentin getan hat, muss man das Bild präzisieren: Die Peitschenhiebe kommen auf jeden Fall, das Zuckerbrot aber nur dann, wenn die Hiebe Wirkung gezeigt haben.

Der zweite Haken ist, dass auch die „guten“ Maßnahmen von den Gläubigern abgesegnet werden müssen. Bei ihrer Ausgestaltung wird die griechische Regierung keineswegs frei sein. Das haben die „Partner“ der Regierung Tsipras bereits klar gemacht, als diese ihre „Weihnachtsgeschenke“ an die Rentner nicht mit ihnen abgestimmt hatte. (siehe Blog vom 22. Dezember 2016).

Der Endbefund: Was die Erfüllung der griechischen Forderungen betrifft, ist das Glas bis auf weiteres nur zu einem Drittel voll, und selbst dieses Drittel Wasser ist noch leicht getrübt. Kann die Regierung Tsipras eine solche Einigung als Erfolg verkaufen? Sie versucht es, aber sie hat damit nicht viel Glück.

Kreative Terminologie – eher misslungen

Regierungssprecher Dimitris Tzanakopoulos erklärte die Beschlüsse von Brüssel zu einem „Kompromiss“, bei dem alle Seiten zurückgesteckt hätten. Was er nicht sagte: Die griechische Seite muss ihre Zugeständnisse sofort liefern, während die der anderen Seite zunächst nur eine griechische Wunschliste darstellen.

Das größte „Kommunikationsproblem“ ist die „rote Linie“, die Tsipras mit seiner Aussage gezogen hat, seine Regierung werde „nicht einen Euro“ an neuen Einsparungen zugestehen. Die Spindoktoren des Regierungschefs hofften das Problem zu lösen, indem sie auf die „guten Maßnahmen“ verweisen, die man den Partnern abgerungen habe. In der Summe ergebe das eine „neutrale Haushaltsbilanz“. Finanzminister Tskalotos erklärte, die Brüsseler Vereinbarungen enthielten „nicht einen Euro an mehr Sparmaßnahmen“. (EfSyn vom 21. Februar). Noch kühner behauptete Energieminister Stathakis: “Jede Maßnahme, die eine Steuerbelastung von einem Euro bringt, wird durch einen Euro steuerlicher Entlastung ausgeglichen.“(6)

Die Behauptung, die Brüsseler Beschlüsse würden „keinen einzigen Euro“ an Sparmaßnahmen beinhalten, soll natürlich die Verabschiedung der „schlechten“ Maßnahmen im Parlament erleichtern. Glaubwürdiger – und vielleicht auch wirksamer - als ein solcher „spin“ wäre das Bemühen, den Griechen reinen Wein einzuschenken. Das heißt, die neuen Zugeständnisse ehrlich darzustellen und zu erklären, damit das Publikum ihre Notwendigkeit einsehen kann – oder auch nicht.

Ehrlich ist am linksten

Dass Ehrlichkeit gerade für eine Linkspartei das oberste politische Gebot sein müsse, hat die linke Tageszeitung EfSyn der Regierung Tsipras schon vor der entscheidenden Runde in Brüssel ins Stammbuch geschrieben. „Lügen wir uns nicht in die Tasche“, forderte der Leitartikel vom 15. Februar. „Die griechische Regierung hat – wie die Erfahrung von sieben Jahren zeigt – keine andere Möglichkeit als mit den Gläubigern zu verhandeln, um zu retten, was zu retten ist. Dies tut sie zwangsläufig aus der Position des schwächeren Verhandlungspartners, wobei sie verpflichtet ist, die Interessen der griechischen Bürger und vor allem der ärmeren Schichten auf jede erdenkliche Weise zu verteidigen. Das bedeutet in dieser Phase: Die Evaluierung muss zu den geringsten möglichen Kosten abgeschlossen werden; mit der Perspektive, bis Sommer 2018… einige Ziele zu verwirklichen, die unsere Lage verbessern. Was die Regierung am Schluss erreicht, wissen wir nicht. Aber wir sehen auch keinen glaubwürdigen, realistischen Gegenvorschlag…“

Die Forderung nach ehrlichen Auskünften, die hier mit „linkem moralischen Anspruch“ gestellt wird, scheint auch weiten Teilen der Bevölkerung am Herzen zu liegen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts der Mazedonischen Universität (in Thessaloniki) von Anfang Januar 2017 enthielt die Frage, wofür ein Politiker vor allem stehen müsse, damit man ihm vertrauen könne. 60 Prozent der Befragten nannten den Begriff „Wahrheit“; alle anderen Begriffe (Wandel, Reformen, Gleichheit, Freiheit, Hoffnung) blieben unter zehn Prozent. (7) Hier zeigt sich erneut: Die politische Klasse Griechenlands ist als Ganze so sehr im Verruf, dass man ihre Aussagen und Versprechen ohnehin nicht glaubt. Ihre einzige Chance besteht darin, die Wahrheit zu sagen. Nur so können sich die Politiker – langsam - wieder Vertrauen verdienen.

Der resignierte Realismus der Bevölkerung

Dass die griechischen Wähler auch in dieser Verhandlungsphase das Dilemma ihrer Regierung durchaus realistisch sehen, zeigt eine Umfrage, die nach dem 20. Februar gemacht wurde. Das Institut PRORATA hat im Auftrag der Zeitung der Redakteure“.(EfSyn vom 24. Februar) ermittelt, dass 52 Prozent der Befragten einen möglichst raschen Abschluss der Verhandlungen mit den Gläubigern befürworten; dagegen glauben 31 Prozent, mit einer Verzögerung sei ein besseres Ergebnis zu erzielen.

Bestätigt wird dieser nüchterne bis resignierte Blick auf die Realität durch die Antworten auf eine andere Frage: „Wenn die zweite Evaluierung von einer Regierung unter Kyriakos Mitsotakis abgeschlossen würde, würde dann der Zustand der Wirtschaft besser oder schlechter werden?“

Die Frage setzt voraus, dass die Regierung Tsipras scheitert und die notwendigen Neuwahlen eine Regierung unter Führung der Nea Dimokratia ermöglichen. Bei einem solchen Szenario glauben nur 18 Prozent der Befragten, dass sich die Situation des Landes verbessern würde. 40 Prozent sind der gegenteiligen Meinung und 35 Prozent glauben, dass sich gar nichts ändern würde.

Der größte Erfolg: Neuwahlen vom Tisch

Dieses Umfrageresultat verweist auf den einzigen realen Gewinn, den die Tsipras-Regierung in Brüssel erzielt hat: Die Frage von Neuwahlen ist für mehrere Monate vom Tisch. Das Ergebnis der Eurogroup-Sitzung vom 20. Februar, analysiert die Syriza-Beobachterin Dora Antoniou, „schiebt die Diskussionen über Neuwahlen ins Tiefkühlfach, weil es klar zeigt, dass die Regierung jeden Gedanken an eine Konfrontation mit den Institutionen aufgegeben hat“. (Kathimerini vom 21. Februar)

Dass baldige Neuwahlen unwahrscheinlich geworden sind, hat auch mit der Berlin-Reise des ND-Vorsitzenden Kyriakos Mitsotakis zu tun, der sich am 13. Februar bei Merkel und Schäuble vorstellen durfte. Obwohl es nach beiden Gesprächen keine offiziellen Stellungnahmen gab, kann man davon ausgehen, dass dem griechischen Oppositionsführer vor allem zwei Botschaften übermittelt wurden. Zum einen: Lass den Unfug mit Neuwahlen, die kann in diesem Sommer in Europa niemand brauchen, und die griechische Wirtschaft auch nicht. Und zum zweiten: Du würdest als Regierungschef auch keine bessere Konditionen bekommen als Tsipras.

Die Zauberformel des Herrn Mitsotakis

Wie aus sicheren Quellen verlautet, hat auch das ökonomische Konzept, das der ND-Hoffnungsträger in Berlin vorgetragen hat, nicht den Segen des deutschen Finanzministers erhalten. Die Zauberformel von Mitsotakis zur Überwindung der Krise ist die Kombination von drei Wunschgrößen: 100 Milliarden Euro an ausländischen Investitionen binnen fünf Jahren; 4 Prozent Wachstum über einen längeren Zeitraum; Reduzierung des Primärüberschusses auf 2 Prozent des BIP. Um die ersten beiden Ziele zu erreichen, will Mitsotakis die Steuern drastisch senken, mit den entsprechenden Folgen für den Staatshaushalt. Die dritte Bedingung müssten die Gläubiger bewilligen, also auch Schäuble, der gegenüber der Tsipras-Regierung (noch) auf 3,5 Prozent Überschuss für mindestens zehn Jahre besteht.

Seit seiner Rückkehr aus Berlin hat Mitsotakis aufgehört, täglich drei Mal Neuwahlen zu fordern, wie er es in den letzten sechs Monaten getan hatte. Dazu trägt auch die Einsicht bei, dass die Regierung Tsipras ihre Mehrheit im Parlament bei der anstehenden Verabschiedung der vorgreifenden Gesetze zusammenhalten kann. Zwar ist keinesfalls ausgeschlossen, dass einige Syriza-Abgeordnete den neuen Schub realpolitischer Anpassung nicht mehr mitmachen wollen. Aber die große Mehrheit wird ihre Regierung unterstützen – nach dem Motto: Wir haben so viele Versprechen brechen müssen, um diese Phase der Evaluierung zu erreichen, da werden wir auch nicht glaubwürdiger, wenn wir auf den letzten Metern den Rückwärtsgang einlegen.

Regierungsmehrheit im Parlament höchst wahrscheinlich

Es gibt einen weiteren Grund, warum die Regierung sich vor den Abstimmungen der kommenden Woche relativ sicher fühlen kann. Falls es dennoch Dissidenten geben sollte, werden die sich an den inzwischen etablierten Kodex halten und ihr Mandat zurückgeben, um regierungstreue Syriza-Vertreter nachrücken zu lassen.

Viel ehrlicher – und wahrscheinlich wirkungsvoller – wäre es allerdings, wenn sich die Regierungsvertreter und die Syriza-Parlamentarier darauf konzentrieren würden, den realen Hintergrund der geforderten Maßnahmen zu erklären und klar zu sagen, dass bestimmte Korrekturen – ob von den Gläubigern gefordert oder nicht – für die griechische Gesellschaft unerlässlich sind.

Ein ehrlicher Blick auf das Rentensystem

„Linke Ehrlichkeit“ ist vor allem beim Blick auf den Zustand der Rentenkassen geboten. Dis bisher vollzogenen Korrekturen – ob man sie Reformen nennt oder nicht – waren unvermeidlich, aber noch keine endgültige Lösung. Die Gründung eines „Vereinigtes Sozialversicherungsträgers“ (EFKA) (zum 1. Januar 2017) ist einer der wichtigsten, wenn auch noch unfertigen Reformprojekte der Tsipras-Regierung. Aber in den Fundamenten des EFKA lagern bereits vier „Zeitbomben“, die das ganze System in die Luft zu sprengen drohen. Zum Beispiel, weil die Mehrheit der in das EFKA integrierten Freiberufler und Bauern die veranschlagten Beiträge nicht abführen (oder abführen können). Vor allem aber wegen der Zustände auf dem Arbeitsmarkt: Hunderttausende Beschäftigte werden nicht voll oder mit großem Verzug ausbezahlt, über eine halbe Million Beschäftigte befinden sich in Teilzeit- oder „flexiblen“ Arbeitsverhältnissen mit Löhnen unter 400 Euro pro Monat. In all diesen Fällen fließen Beiträge in die Sozialkassen stark verzögert, nur teilweise oder gar nicht – von der Schwarzarbeit noch ganz abgesehen.

In einem solchen Arbeitsmarktumfeld, schätzt der frühere (PASOK-) Arbeitsminister Koutromanis, müssen heute „zehn Beschäftigte arbeiten, um eine einzige Rente von 750 Euro zu finanzieren“.(8) Wenn nicht bald eine wirtschaftliche Erholung einsetzt, die viele und vor allem „echte“ Arbeitsplätze schafft, werden die strukturellen Defizite im EFKA-System ständig weiter wachsen. An Beispielen wie diesen zeigt sich, was der Faktor Zeit für ein Krisenland bedeutet. Und im griechischen Fall bedeutet verlorene Zeit nicht nur verlorenes Geld, sondern eine verlorene Generation.

27.02.2017

Anmerkungen

1) Nach einem Bericht der Brüsseler Kathimerini-Korrespondentin vom 21. Februar.

2) Er meint damit Verzögerung der Aufnahme ins QE-Programm der EZB und in der Folge auch der Rückkehr griechischer Staatsanleihen auf die internationalen Rentenmärkte; siehe dazu den Text auf diesem Blog vom 25. Januar 2017.

3) Bei dieser Forderung konnte sich Tsakalotos auf EZB-Chef Dragi berufen, der klargestellt hat, dass mehr Klarheit über die Schuldentragfähigkeit des Landes eine der Bedingungen für die Aufnahme ins QE-Programm ist.

4) Die Liquidität des Landes ist spätestens im Juli gefährdet, siehe dazu die Analyse auf diesem Blog vom 25. Januar 2017.

5) IWF-Sprecher Gerry Rice erklärte laut Kathimerini vom 23. Februar, die entsprechende Diskussion könnte „nach dem Abschluss der zweiten Evaluierung beginnen“. Und Lagarde selbst wurde in der FAZ vom 23. Februar mit der Aussage zitiert, „der Umfang der nötigen angemessenen Schuldenumstrukurierungen“ hänge auch von „der Stärke der griechischen Wirtschaft nach dem aktuellen dritten Rettungsprogramm ab“.

6) So im Fernsehsender Skai TV vom 21. Februar; ähnlich der engste Tsipras-Vertraute Nikos Pappas im TV-Sender ANT 1.

7) Detaillierte Ergebnisse der Umfrage in: Kathimerini vom 29. Januar 2017.

8) Die Analyse der Gefahren für das Rentensystem von Roula Salourou in: Kathimerini vom 19. Februar 2017.