Blogbeitrag: Syriza-Kritik (II)

Bis vor kurzem war die Werft das ökonomische Rückgrat der Insel . Heute ist ihr einst größter Arbeitgeber praktisch bankrott.
 

Herbstlese (Teil II)

Im zweiten Teil dieses Berichts über Griechenland im Herbst 2016 möchte ich die Probleme des Landes und die Stimmung der Bevölkerung auf lokaler Ebene veranschaulichen. Im Mittelpunkt stehen dabei die innergriechischen Pathologien, die eine Überwindung dieser Krise so schwierig und langwierig machen. Das werde ich an der Frage abhandeln, warum die allseits erwünschten ausländischen Investitionen in Griechenland auf sich warten lassen.

Die Krise in Nahaufnahme

Griechenland ist am Ende dieses Sommers eine Gesellschaft, die sich im Kampf um das tägliche Überleben verzehrt. Und die zugleich jede Hoffnung verloren hat, dass ihre politische Klasse einen Ausweg aus der Krise weisen, geschweige denn einschlagen kann. Ich habe diese kollektive Depression an einem bestimmten Ort erlebt, auf einer Insel, die ich seit langem kenne. Fast alle Komponenten, aus denen sich die griechische Krise zusammensetzt, sind hier in Nahaufnahme zu besichtigen.

Das liegt auch daran, dass die lokale Wirtschaft nicht so ausschließlich auf dem Tourismus basiert wie die anderer Inseln. Das ökonomische Rückgrat war bis vor kurzem die Werft, die in ihren Docks auch große Schiffe reparieren und warten kann. Der jahrzehntelang subventionierte Staatsbetrieb wurde 1994 privatisiert und schrieb bis zum Beginn der Krise schwarze Zahlen. Heute ist der ehemals größte Arbeitgeber der Insel praktisch bankrott – und tut doch weiter so „als ob“. Dabei weiß jeder auf der Insel, was Sache ist: Die Arbeiter, die seit langem statt ihrer Löhne eine Abschlagszahlung von 180 Euro pro Monat erhalten; die Sozialkasse IKA, an die das Unternehmen keine Beiträge abführt; der öffentliche Stromversorger, der seit Monaten unbezahlte Rechnungen anmahnt. Und natürlich weiß auch das lokale Finanzamt Bescheid, weil die Werft längst keine Steuern mehr zahlt.

Das Unternehmen ist ein lebender Leichnam, für das sich nicht einmal ein Bestattungsinstitut interessiert. Die lokale Zeitung setzt alle paar Monate das Gerücht in die Welt, dass irgendein Oligarch – arabischer oder russischer Herkunft – die Werft kaufen und retten wolle. Das aus Verzweiflung geborene Hirngespinst hat sich noch nie zu einem leibhaftigen Investor verdichtet. Realistischer erscheint den Einheimischen daher die Hoffnung auf einen touristischen Aufschwung ihrer Insel. Doch die Feriensaison brachte auch diesen Sommer nicht die ersehnte Rettung.

Mehr ausländische, weniger griechische Touristen

Boomende Ferienziele wie Rhodos, Santorini oder Korfu melden 2016 neue Rekordzahlen an ausländischen Besuchern.(1) Die Aschenputtel-Insel bekommt von diesem Segen wenig ab. Sie ist traditionell auf griechische und speziell auf die Athener Urlauber angewiesen, von denen viele dieses Jahr weggeblieben sind. Die dennoch kamen, konnten sich nur Kurzferien leisten. Und sie gaben weniger Geld aus, was die Geschäfte, die Cafés und die Tavernen zu spüren bekamen. Gute Geschäfte machten nur die Schnellimbisse, wo sich tagsüber wie abends ganze Familien bedienten.

Dass die griechischen Touristen bei ihrem Inselurlaub jeden Euro umdrehen, hat mehrere Gründe. Zum einen sind die verfügbaren Einkommen - auch des Mittelstands - noch weiter geschrumpft. Zum anderen sparen die Leute für den Herbst, der erhöhte Beiträge zur Alterssicherung und erheblich höhere direkte Steuern bringen wird – zusätzlich zur Anhebung der Mehrwertsteuer von 23 auf 24 Prozent.

Für die Inseln kam diesen Sommer ein weiterer Faktor hinzu, der die Einheimischen besonders verbittert hat. Auf Verlangen der Troika wurde zu Beginn der Touristensaison die um ein Drittel ermäßigte Mehrwertsteuer für die Inseln abgeschafft, die kompensieren sollte, dass die meisten Lebensmittel durch Transportkosten verteuert werden. Ohne diese Entlastung liegen die Preise auf den Inseln – auch in der Gastronomie - heute deutlich höher als auf dem Festland.(2)

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Inseln hat eine unerwünschte, aber nicht unerwartete Folge. Auch der Anreiz zur Steuerhinterziehung ist größer geworden. Vor allem in Cafés und Tavernen werden Quittungen häufig erst auf Verlangen ausgestellt. Dabei haben die Sünder noch weniger Unrechtsbewusstsein, weil sie die Unterschlagung als Notwehr gegen eine tatsächliche Ungerechtigkeit empfinden.(3)

Griechenland hat nach dem neusten „VAT-Gap-Report“ der EU-Kommission seit dem Jahr 2000 insgesamt 90 Milliarden Euro an Mehrwert-Steuereinnahmen verloren, was fast einem Drittel der gesamten griechischen Staatsschuld entspricht. Der Verlust beim Mwst.-Aufkommen liegt bei 30 Prozent und damit doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt (4). Der Zusammenhang zwischen erhöhtem Mwst.-Satz und erhöhter Hinterziehungsrate ist auch empirisch belegt. In Griechenland ist das Mwst.-Loch im Jahr 2014 gegenüber 2013 deutlich geschrumpft  (von 6,3 auf 4,9 Milliarden Euro, oder von 34 auf 28 Prozent) – eine Folge der damaligen Reduzierung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie von 23 auf 13 Prozent.

Erfolge im Kampf gegen die Steuerbetrüger

Ein erhöhter Steuersatz garantiert verbesserte  Staatseinnahmen also nur dann, wenn die Hinterziehungsquote nicht ansteigt. Um das zu verhindern, gibt es bei der Mehrwertsteuer zwei Mittel. Das eine ist eine Verstärkung der Kontrollen. Deshalb wurden in den Sommermonaten mehr Steuerfahnder in den touristischen Zentren eingesetzt. Allerdings spricht sich auf einer Insel schnell herum, wenn die Fahnder gelandet sind. Dann verwandeln sich die notorischen Sünder ein paar Tage lang in gesetzestreue Unternehmer, die korrekte Quittungen ausstellen. Und wenn die Fahnder weg sind, ist wieder alles beim Alten.

Auf diesem Gebiet gibt es jedoch ein Hoffnungszeichen. In den Ferienmonaten Juli und August ist es dem Fiskus gelungen, die Mehrwertsteuer-Einnahmen gerade in den Tourismus-Zentren wesentlich zu steigern und die Einnahmeschätzungen weit zu übertreffen (etwa in Mykonos, Santorini und Rhodos um mehr als das Doppelte). Das erklärt sich zum Teil durch den gezielten Einsatz der Steuerinspektoren auf umsatzstarken Inseln, deren Wirkung noch dadurch verstärkt wurde, dass die Medien ausführliche Reportagen über den Kampf gegen die Steuersünder brachten.

Der zweite und noch wichtigere Faktor ist die Zahlungsmethode: Gerade in den touristischen Zentren werden immer mehr Rechnungen mit EC- oder Kreditkarten bezahlt, und nicht nur von ausländischen Urlaubern. Auch die Griechen zahlen in Geschäften und Restaurants immer häufiger mit Plastikgeld. Verstärkt wurde dieser Trend durch die erzwungene Einführung der Kapitalkontrollen im letzten Sommer: Seitdem sind Bargeldabhebungen vom eigenen Bankkonto rationiert, während Kartenzahlungen unbegrenzt möglich bleiben.

Experten des Finanzministeriums schätzen, dass die Summe der hinterzogenen Mwst. halbiert werden könnte, wenn die Transaktionen zu 100 Prozent mit Plastikgeld vollzogen würden (Kathimerini vom 28. September 2016). Um dieses fiskalische Ideal zu erreichen, setzt die Regierung Tsipras auf Anreize und Vorschriften, wonach bestimmte Transaktionen nur noch per Kartenzahlung möglich sein sollen. Zum Beispiel soll der Nachweis von Ausgaben in Plastikgeld mit einem Steuerbonus belohnt werden.(5) Aber ein solches Programm, das der damalige Finanzminister Varoufakis schon vor 15 Monaten angeregt hat, ist nicht von heute auf morgen umzusetzen. Außerdem ist eine korrekte Abführung der Mwst. nur dann garantiert, wenn die Karten-Abrechnungen bei den Banken mit den Registrierkassen der Unternehmen abgeglichen werden, was heute nicht einmal stichprobenartig geschieht.

Bankrott einer Supermarktkette

Das Grundproblem bleibt das reduzierte verfügbare Einkommen der Griechen. Im Frühjahr 2016 sind die monatlichen Ausgaben der Konsumenten in den Supermärkten gegenüber dem Vorjahr noch einmal um durchschnittlich 11 Prozent gesunken, von 303 auf 270 Euro. Ein Drittel der Verbraucher konnte nicht einmal 200 Euro pro Monat ausgeben (Kathimerini vom 24. Juni 2016). Damit geraten selbst große Supermarkt-Ketten - die dank Niedrigpreisen ihren Marktanteil im Lauf der Krise erhöhen konnten -, in existentielle Schwierigkeiten.

Die wurden in der Insel-Hauptstadt in den Supermärkten des Unternehmens Marinopoulos sichtbar: Die Regale leerten sich von Tag zu Tag, die Kunden blieben weg, bis am Ende nur noch die Angestellten selber einkauften. Aber die haben bislang durchgehalten, weil es einen „Rettungsplan“ gibt, der die Übernahme durch eine konkurrierende Ladenkette vorsieht.

Das Unternehmen Marinopoulos ist allerdings nicht so sehr Opfer der griechischen Krise, als vielmehr eine ihrer Ursachen. Und ein überaus lehrreiches Beispiel für die Pathologien des griechischen Kapitalismus, wie uns der Wirtschaftsjournalist Kostas Kallitsis vor Augen führt (dessen Kolumne im Wirtschaftsteil der sonntäglichen Kathimerini stets lesenswert ist). In seinem Beitrag vom 3. Juli 2016 schafft es Kallitsis, einen Firmenskandal auszuleuchten und zugleich die fatalen Strukturdefekte der „politischen Ökonomie“ seines Landes aufzuzeigen. Deshalb sei hier der Text fast in voller Länge dokumentiert (die Erläuterungen in Klammern stammen von mir).

Aus Anlass des Falles der Marinopoulos GmbH
von Kostas Kallitsis

Wie konnte es bei einer großen Ladenkette wie der Marinopoulos GmbH so weit kommen? Wie lässt sich erklären, dass ein Unternehmen mit laufenden Bargeldeinnahmen seine Rechnungen per Krediten finanziert und seine Lieferanten ständig mit Verzug auszahlt - und dabei einen riesigen Schuldenberg (von 1, 1 Milliarden Euro) angehäuft hat? Dies ist nach Meinung vieler die zentrale Frage, die es zu beantworten gilt.

Eine weitere Frage: Wie kann es sein, dass eine Firma drei Jahre lang keine Bilanz veröffentlicht und eine negative Kapitaldeckung aufweist, aber weiterhin von den Banken ganz normal finanziert wird, als gebe es da kein Problem? Und wie kann es sein, dass diese Banken, die seit langem mit „bad news“ rechnen müssen, nicht darüber informieren, dass das Unternehmen mit gestempelten (also nicht einlösbaren) Schuldscheinen hantiert? Was heißt, dass die Banken dem Untergang fast untätig zusehen.
Jenseits der Frage nach den Verantwortlichen für all diese Dinge, wirft auch der (Sanierungs-) Vorschlag des Unternehmens Fragen auf: Ist es mit den sogenannten „guten Sitten“ vereinbar, einen Rettungsplan vorzulegen, demzufolge nahezu alle Anderen die Kosten tragen sollen, während die Aktionäre keine substantielle Verpflichtung eingehen, das Unternehmen durch das Nachschießen frischen Kapitals zu stützen?

Wir sprechen hier von einem Großunternehmen mit 12.500 Angestellten, mit einem Jahresumsatz von 1, 6 Milliarden Euro, mit 2000 Lieferfirmen, und mit 823 Supermärkten in Griechenland und anderen Ländern der Region.

Der Niedergang eines solchen Unternehmens provoziert natürlich weitere, viel allgemeinere kritische Fragen: über die Krise, über das griechische Unternehmertum und womöglich über eine der „Paradoxien“ des griechischen Kapitalismus.

Die bittere Wahrheit ist, dass hierzulande von 2008 bis heute 244.000 Firmen dicht gemacht haben, was die Vernichtung von 843.000 Arbeitsplätzen und von Einkommen in Höhe von 30 Milliarden Euro bedeutet. Und dies waren nur die direkten Kosten des Zusammenbruchs eines parasitären Wirtschaftsmodells. Eines Modells, das auf kreditfinanziertem Konsum beruht, das sich demonstrativ nicht um den Faktor Produktivität kümmert (bei dem wir im internationalen Vergleich abgehängt sind), und das die produktiven Infrastrukturen auf dramatische Weise vernachlässigt. Eines Modells, das sich zusammensetzt aus großen Unternehmen, die von Staatsaufträgen leben; einem Archipel von mittleren und kleinen Unternehmen, die außerhalb der Produktionskette existieren (also im Grunde aus Schaufenstern bestehen) und ihr Überleben überwiegend der Hinterziehung von Steuern und Sozialabgaben verdanken; einem Staat und einem Bankensystem, die gemeinschaftlich die  perfekte, „Blase“ erzeugt haben – eben die griechische Blase.

Diese Blase ist bekanntlich geplatzt – mit der Folge von Firmenzusammenbrüchen… Allerdings gibt es auch Unternehmen mit engagierten Managern, die sich schlicht verkalkuliert haben. Bankrotte wird es immer geben, und sie sind weder eine Sünde noch ein spezielles griechisches Phänomen. Einige dieser Firmen sind schlicht nicht überlebensfähig. Aber es gibt auch andere, die nach entschlossener Umstrukturierung wieder profitabel werden können, falls ihnen frisches Kapital zugeführt wird. Wenn das nicht geschieht, werden sie weiter dahinsiechen, und dann werden andere Unternehmen angesteckt und noch mehr Arbeitsplätze vernichtet. In dem Fall wird womöglich in einigen Monaten eine erneute Rekapitalisierung der Banken  nötig werden  - und dann mittels bail-in mit den bekannten Folgen (gemeint ist ein haircut für die Bankeinlagen oberhalb der Garantiegrenze, wie er in Zypern  vollzogen wurde).

Dieses Problem steht seit Jahren im Raum, ohne dass es angepackt wurde. Hier zeigt sich, trotz erster positiver Schritte, ein allgemeiner Handlungsunwille, dessen verborgene Ursache das „unverwüstliche“ Klientelsystem ist: jenes endemische und kranke Modell, das es den Unternehmen erlaubt, großzügige Kredite aufzunehmen und diese dann in persönlichen Reichtum zu verwandeln. Und zwar über zwei Methoden: Entweder mittels überhöhter Preise, die den Unternehmern die Taschen füllen, den Unternehmen hingegen von Anfang an die Luft abschnüren. Oder durch glatten Betrug, also die systematische Plünderung des Unternehmens, ermöglicht durch schwachsinnig generöse Bankkredite, die zuweilen nach völlig paradoxen Kriterien vergeben werden, und mit denen die „schwarzen Löcher“ in den Bilanzen gestopft werden.

Um es ganz klar zu sagen: Es gibt in diesem Land Unternehmer, die den Begriff „gesundes Unternehmertum“ wirklich ernst nehmen, die Innovationen anstreben, die sich im Wettbewerb behaupten wollen, die die Belange der Lohnarbeiter respektieren, die sich an die Gesetze des griechischen Staates halten. Aber ebenso klar ist: Es gibt auch ein krankes System von „Unternehmen“, die von allen Seiten verschont und verhätschelt werden: von den Regierungen, den Banken, den Journalisten und den Massenmedien. Der Staat hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es funktionierende Institutionen gibt, die in dieser Hinsicht die Spreu vom Weizen trennen. Damit die gesunden Unternehmen Luft zum Atmen haben und sich entwickeln können – und das kranke System endlich dahinschwindet.

Eine aktuelle Anmerkung: Das Unternehmen Marinopoulos mit landesweit rund 500 Supermärkten wird demnächst von dem kleineren, aber solventen Konkurrenten Sklavenitis übernommen. Entscheidende Voraussetzung ist, dass die Marinopoulos-Lieferanten auf 50 Prozent ihrer Forderungen verzichten, desgleichen die örtlichen Gemeinden und der staatliche Stromversorger. Das Lösungsmodell wird allerdings von den anderen Konkurrenten als indirekte Staatsbeihilfe (für Sklavenitis) gesehen und wahrscheinlich gerichtlich angefochten. Eine Entscheidung soll bis Mitte Dezember fallen.(6)

Auf der Suche nach Investoren

Man muss den Glauben von Kallitsis an ein „gesundes Unternehmertum“ nicht ohne weiteres teilen, doch mit seiner Analyse der Pathologien des griechischen Kapitalismus arbeitet er den Kern des Problems heraus, das einer „Sanierung“ der griechischen Wirtschaft im Wege steht.

Für Kallitsis und andere Experten ist die beschriebene „endemische“ Krankheit ein wichtiger Grund, warum sich im siebten Jahr der Krise nur wenige ausländische Investoren für Griechenland interessieren. Das aber wäre dringend nötig, um überhaupt wieder Arbeitsplätze jenseits der derzeit boomenden Tourismusbranche zu schaffen. In der Tat hat sich die Investitionslücke dramatisch vergrößert. Im Zeitraum 2008 bis 2015 sind die Gesamtinvestitionen in Griechenland (staatlich und privat) um 62 Prozent geschrumpft. 2007 entsprach der Umfang der Kapitalbildung noch 27 Prozent des griechischen BIP, 2014 war dieser Wert auf 12 Prozent des BIP gefallen.(7) Entsprechend ist in diesem Zeitraum die Produktivität der griechischen Wirtschaft – trotz drastisch abgesenkter Lohnkosten – fortlaufend zurückgegangen.

Ein zweiter wichtiger Grund, der Investoren abschreckt, ist der schon beschriebene Kaufkraftschwund und die Unsicherheit, wann der griechische Binnenmarkt wieder zu wachsen beginnt – wobei nur eines sicher ist: dass es länger dauert, wenn niemand investiert. Ein dritter Grund ist natürlich das ungelöste Problem der öffentlichen Finanzen, weil gerade „ernsthafte“ Investoren sehr wohl wissen, dass das Land eine Schuldenentlastung braucht, die aber immer wieder aufgeschoben wird.

Hat die Regierung Tsipras eine Wirtschaftspolitik?

Kallitsis nennt einen weiteren Grund, für den er Tsipras und die Syriza direkt verantwortlich macht: „Diese Regierung verfügt nach eineinhalb Jahren über keinerlei konkrete Politik für die wirtschaftliche Entwicklung. Selbst wenn morgen ein ausländischer Investor kommen und sagen würde: Ich will eine Milliarde Euro investieren, könnt ihr mir was vorschlagen? - dann hätte diese Regierung keinen Vorschlag. Weil es keinen Plan gibt. Und ich fürchte, dass es nicht mal ernsthafte Vorarbeiten für einen solchen Plan gibt.“ (Kathimerini vom 11. September 2016)

Was es auf Seiten der Regierung gibt, ist immerhin das Bewusstsein, worum es geht. Der Vize-Finanzminister Chouliarakis hat es in aller Klarheit ausgesprochen: „Wir brauchen große Investitionen, öffentliche und private. Um diese anzuziehen, ist zweierlei erforderlich: ein einheitliches Narrativ und eine unternehmerfreundliche Einstellung. Wenn es beides nicht gibt, werden wir die hohen Wachstumszahlen, die unser Programm vorsieht, nicht erzielen können.“(8)

Aber wie steht es um die von Kallitsis geforderte Konkretisierung? Die hat Alexis Tsipras  auch in seiner als „programmatisch“ angekündigten Rede von Thessaloniki nicht geliefert. Der  Regierungschef benannte zwar mehrere „Achsen“ seiner Strategie, darunter „die Nutzung der Wettbewerbsvorteile des Landes“ und „die Förderung von Investitionen“.  Er identifizierte auch fünf Bereiche, auf die sich das neue  „Produktionsmodell“ konzentrieren soll (Tourismus, Energie, Bauindustrie, neue Technologien und Landwirtschaft plus veredelnde Nahrungsmittelproduktion) und betonte generell die Notwendigkeit, exportfähige Produkte zu erzeugen.(9) Aber von konkreten Projekten oder Initiativen war nicht die Rede – mit Ausnahme der Gründung einer „Stiftung für Innovation“, die Forschungs- und Technologievorhaben fördern soll, um ausgewanderte junge Wissenschaftlicher nach Griechenland zurück zu locken.

Verteidigungsminister Kammenos verschenkt Immobilien

Was die Konjunkturentwicklung betrifft, so setzte Tsipras in Thessaloniki einen seltsamen Akzent, als er gegenüber Journalisten feststellte, die Erholung werde „sowieso kommen“. Das stimmt natürlich immer, wenn die Konjunkturdaten nicht mehr viel tiefer absacken können; aber es klingt nicht gerade nach einem Konzept. Und zumal für Investitionen gilt keineswegs, dass sie „sowieso kommen“.

Das scheint zumindest ein Minister der Tsipras-Regierung nicht kapiert zu haben: Verteidigungsminister Panos Kammenos, der populistische Chef des Koalitionspartners Anel („Unabhängige Griechen“), der sich neuerdings als Wirtschaftspolitiker profiliert. Ende Mai besuchte Kammenos die oben beschriebene Insel, um die örtliche Konjunktur anzukurbeln. Zweck der Reise - mit größerem Gefolge im Militärhelikopter - war die Ablieferung eines Geschenks. Der Verteidigungsminister übertrug der Kommune die Besitztitel für zwei Immobilien: eine leerstehende Kaserne und die Ruine einer seit langem ungenutzten Schießanlage. Er unterzeichnete auch ein „Memorandum“ über die Kooperation zwischen der Gemeinde und seinem Ministerium, um gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass sich die Kommune um die Investorensuche selber kümmern müsse. Im Anschluss gab es ein größeres Bankett mit vielen Honoratioren und Lobhudeleien.

Das Ganze war nur eine dröhnende PR-Salve, die nach hinten losging. Die örtliche Presse rechnete vor, was der Ausflug von Kammenos an Steuergeldern gekostet hat. Für die Insulaner war die Potemkinsche Gabe des Ministers nur ein schlechter Witz, weil alle wissen, dass es für die alte Kaserne nur eine sinnvolle Nutzung gibt: als Campus für die Design-Fakultät, die unter großem Raummangel leidet. Aber für die nötigen Umbauten hat der Staat kein Geld. In den ersten acht Monaten des Haushaltsjahrs 2016 hat die Regierung Tsipras die öffentlichen Investitionen um 883 Millionen Euro zusammengestrichen. (Kathimerini vom 28. September)

Wer investiert heute noch in Griechenland?

Derzeit gibt es nur zwei Gruppen von  Investoren, die sich für Griechenland interessieren. Die einen sind auf den Tourismus-Sektor fixiert und kaufen entweder bestehende profitable Ferienanlagen - bevorzugt im Luxussegment - oder günstige Grundstücke, die sich touristisch „entwickeln“ lassen. Zu dieser Gruppe gehören Kapitalfonds und Einzelanleger aus aller Welt, von türkischen Investoren, die sich vor allem für Yachthäfen interessieren, über arabische Petrokapitalgruppen bis hin zu Oligarchen aus Mexiko oder Indien.

Eine zweite Gruppe konzentriert sich auf die „günstigen Gelegenheiten“, die sich beim Aufkauf von notleidenden Krediten (NPLs) und Hypotheken, aber vor allem von überschuldeten, aber zukunftsfähigen Unternehmen bieten. Hier sind vor allem transnationale Hedgefonds und Finanzgruppen aktiv, die angesichts der global eingeschränkten Möglichkeiten einer profitablen Geldanlage zu einem „griechischen Risiko“ bereit und in der Lage sind. Aber selbst diese Interessenten halten sich in den letzten Monaten zurück, verlautet aus griechischen Bankenkreisen. Sie warten - zumindest bis Ende dieses Jahres - ab, wie sich die innenpolitische Situation in Griechenland und das Verhältnis zwischen Athen und der Troika entwickelt, insbesondere in der Frage der Schuldenentlastung (Kathimerini vom 13. September).

Von „seriösen“ Investitionen, die eine „nachhaltige“ wirtschaftliche Entwicklung tragen könnten,  ist dagegen weit und breit nichts zu sehen. Deshalb ist Griechenland für die nahe Zukunft fast ausschließlich auf Investitionsprogramme angewiesen, die aus EU-Programmen und von EU-Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank (EIB) stammen. Aber auch auf diesem Gebiet hat die Regierung Tsipras einiges versäumt.

Ein Beispiel: Obwohl erhebliche Geldsummen aus den Programmen der EIB seit Sommer 2015 bereit stehen, schaffte es die Athener Bürokratie erst im Mai 2016, die ersten Anträge für Investitionsprojekte einzureichen. Hier zeigt sich ein notorisches „Defizit administrativer Effizienz in verschiedenen griechischen Ministerien“, wie es Jens Bastian beklagt, ehemals Mitglied der EU-Task Force und einer der besten Kenner der Materie. Bastian gesteht zu, dass jeder Regierungswechsel mit einem Verlust professioneller Expertise und zeitlichen Verzögerungen einhergeht, meint aber, dass die Tsipras-Regierung gerade deshalb gezielt griechische Experten aus den EU-Institutionen hätte rekrutieren müssen, die über das nötige Knowhow im Projektmanagement verfügen.(10)

An diesem Beispiel zeigt sich, wie groß die Bedeutung einer allgemeinen Reform des öffentlichen Sektors für eine erfolgreiche griechische Krisenstrategie ist. Im nächsten Teil meines Berichts werde ich auf die Ausgangsfrage zurückkommen, inwieweit die Regierung Tsipras die Chance, die Fähigkeit und die Konzepte hat, um das Land aus der Krise herauszuführen. Entscheidend für den Befund ist dabei das Bemühen – und die Erfolgsquote – der Regierung bei der Durchsetzung der großenteils überfälligen Reformen.
10. Oktober 2016

Anmerkungen
1) Dabei konnte Griechenland von der Abkehr vieler Touristen von der Türkei viel weniger profitieren als konkurrierende Destinationen wie Spanien und Zypern. Bis Ende August lag die Zahl der ausländischen Touristen in der Türkei um 32 Prozent unter dem Vorjahrsniveau. In Griechenland kamen im selben Zeitraum nur 6,5 Prozent mehr Ausländer an, in Spanien betrug der Zuwachs 12 Prozent und in Zypern sogar 19 Prozent (nach Kathimerini vom 30. September). Außerdem ließen die ausländischen Touristen dieses Jahr pro Reise weniger Geld im Lande, weil der Anteil der Kurzreisen gestiegen ist (siehe Kathimerini vom 5. August 2016).
2) Dem berechtigten Einwand der Troika, boomende Touristeninseln wie Mykonos oder Santorini dürften keine steuerliche Privilegien genießen, hätte man durch Sonderregelungen entsprechen können .
3) Ein detaillierter Bericht über die Steuerhinterziehung auf den Inseln findet sich in der Kathimerini vom 12. Juni 2016.
4) Der ganze Bericht.
5) Im Finanzministerium wurde sogar erwogen, die öffentlichen Bediensteten zu zwingen, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Konsumausgaben per Karte zu tätigen, was aber auf rechtliche Bedenken stößt.
6) Zu den Details der Rettung siehe EfSyn vom 9. September und vom 1. Oktober 2016. Mittlerweile haben 70 Prozent der Lieferanten dem Forderungsverzicht zugestimmt, den Beschäftigten wurden die ausstehenden Gehälter bis August ausbezahlt.
7) Diese Zahlen nennt Nick Malkoutzis in seiner Analyse in der Kathimerini (englische Ausgabe) vom 26. September 2016.
8) Damit kritisiert der engste Mitarbeiter von Finanzministet Tsakalotos indirekt auch die widersprüchlichen Aussagen der Regierung und ihrer Mitglieder.
9) So auch Wirtschaftsminister Stathakis, siehe EfSyn vom 11. September 2016.
10) Bastian stellt allerdings nicht die Frage, welche Gehälter man diese Experten aus Brüssel hätte bieten müssen: Zum Interview mit Bastian.