09.10.2009

Giftige Fläschchen

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Giftige Fläschchen

Die Geschichte des Bisphenol A (BPA) begann in den 1930er-Jahren, als entdeckt wurde, dass die Ende des 19. Jahrhunderts von dem russischen Chemiker Alexander Dianin synthetisierte organische Verbindung östrogene Wirkung besitzt. In der medizinischen Anwendung wurde BPA schnell von einer anderen Verbindung, dem Diethylstilbestrol (DES), verdrängt. Dieses wurde querbeet Frauen verschrieben, die Fehlgeburten erlitten hatten, und führte in den 1970er-Jahren zu einer Gesundheitskatastrophe: Viele Mädchen kamen mit Missbildungen zur Welt.

Aber nichts geht verloren. Nachdem Bisphenol A in der Medizin durchgefallen war, begann es eine zweite Karriere bei der Herstellung von Polycarbonaten. BPA besitzt eine überaus nützliche Eigenschaft: Es macht Kunststoffe weich und eignet sich daher vorzüglich für die Produktion von Plastikbällen, Badeentchen und sonstigem Kinderspielzeug. Drei Millionen Tonnen Bisphenol A werden jährlich hergestellt. Das Problem der chemischen Verbindung ist allerdings ihre Flüchtigkeit, das heißt, sie hat den natürlichen Hang, zu „wandern“, vor allem, wenn sie erhitzt wird. Aus diesem Grund ist BPA auch im Körper von 94 Prozent der US-Amerikaner nachweisbar. Auf welchen verschlungenen Wegen konnte nun aber Bisphenol A, das wegen seiner unmittelbaren Wirkung auf das Hormonsystem – das sich bei Säuglingen noch im Entwicklungsstadium befindet – als Medikament diskreditiert war, ausgerechnet in Babyflaschen gelangen?

Chemische Beweisführungen sind kompliziert, und Krebs hat oft mehr als nur eine Ursache. Im Fall von BPA hat Kanada trotz der üblichen Einsprüche durch von der Industrie finanzierte „Expertenberichte“ die Indizien für ausreichend befunden und Ende 2008 den Verkauf von Babyflaschen, die BPA enthalten, verboten. In Frankreich haben sich einige Kinderkrippen entschieden, keine Bisphenol-Flaschen mehr zu verwenden. Die Schweizer Firma Sigg musste, nachdem sie es zwei Jahre verschleiert hatte, schließlich zugeben, dass in ihren Aluminiumflaschen „Spuren“ von BPA nachgewiesen worden waren. Das kalifornische Parlament aber lehnte am 11. September den Gesetzentwurf SB 797 ab, der darauf abzielte, BPA in Babyflaschen und -tassen zu verbieten.

Der koreanische Lebensmittelhersteller Samyang hingegen hat vor kurzem ein Joint Venture mit dem japanischen Chemieunternehmen Mitsubishi angekündigt, um eine Fabrik für die Produktion von 15 000 Tonnen Bisphenol A jährlich zu bauen. BPA ist ein chemisches Produkt unter vielen anderen. Nachdem sich die industrielle Chemie während eines Jahrhunderts nahezu unkontrolliert entwickeln konnte, vergeht kaum ein Tag, ohne dass nicht eine der gut 50 000 Chemikalien des täglichen Gebrauchs als giftig eingestuft wird. Auch bei den winzigen, fürs bloße Auge nicht erkennbaren Nanoprodukten wird sich erst in etlichen Jahren herausstellen, wie nützlich oder schädlich sie für den Menschen sind.

Philippe Rivière

Le Monde diplomatique vom 09.10.2009, von Philippe Rivière